Hotelismus
Nov 082006
 

Gut gemacht, OB!

Hotelismus ist heilbar – vielleicht

(iz) Der Herr Menzel darf sich nicht in alles einmischen, was ihm nicht in den Kram passt – siehe unsere Nach-Wahl-Analyse. Aber es gibt Dinge, da muss er sich auf jeden Fall einmischen. Zum Beispiel, wenn jemand mit Planungen für ein Sahnegrundstück am Wasser daherkommt, angeblich gleich die passenden Investoren im Gepäck hat und wie selbstverständlich fordert, dass er den Zuschlag bekommt.

So wie Rüdiger Tober, dessen Büro ICP ein 100 Millionen Euro schweres Bauprojekt namens „Insulanus“ (Wohn-, Gastronomie- und Freizeitanlagen) auf der Wiesbadenbrücke verwirklichen möchte. Sein nassforscher Auftritt weckte nicht nur in uns die Sorge, dass die Stadt sich schon wieder zu einem Schnellschuss hineinreißen lässt, gepaart mit hohen Erwartungen, die am Ende in Ärger und Enttäuschung münden. So dümpelt auch das Bauvorhaben „Columbia-Hotel“ unweit der Wiesbadenbrücke müde vor sich hin. Das ehemalige Marinegelände am Großen Hafen birgt großes Potenzial und ist gleichzeitig so kostbar – da ist das Beste gerade gut genug, und um das Beste zu finden, müsste man hier doch einen Architektenwettbewerb durchführen, dachte die Verfasserin angesichts des, mit Verlaub, fantasielosen ICP-Konzeptes.
Und manchmal geschehen Zeichen und Wunder: „Menzel erteilt ‚Insulanus’ eine Absage“, meldete die WZ am 17.10.2006. Die Entwicklung dieses Bereiches, so das Stadtoberhaupt, „erfordere eine sorgfältige und realistische Planung, keinesfalls Beliebigkeit und Konzepte, die mit der gewachsenen Situation und herausragenden Bedeutung dieser wertvollen Fläche nicht vereinbar seien.“ Mein Reden!
Die Planungshoheit hat immer noch die Stadt, und die sollte sie zukünftig nicht mehr aus der Hand geben. So muss sie zunächst mal einen Bebauungsplan auf den Weg bringen. Und mit dem Bund als Flächeneigentümer ist bereits abgesprochen, dass für die Wiesbadenbrücke ein Investorenwettbewerb mit Architektenbindung durchgeführt wird.
Der bislang im Rathaus grassierende Hotelismus (1) scheint also abzuflauen. Welche der empfohlenen Therapieformen dabei zum Tragen kommt, lässt sich ohne nähere Untersuchung nicht beurteilen. Der Langzeiterfolg zeigt sich ohnehin erst nach Auswertung des Investorenwettbewerbs. Bei „Columbia“ obsiegte eine denkbar gesichtslose Variante gegenüber dem organisch geschwungenen Entwurf eines hiesigen Architekten. Wird man sich diesmal für ein städtebauliches Highlight entscheiden? Und wenn gar kein solches vorgelegt wird, eine neue Runde starten, bessere Entwürfe fordern – oder einfach die am wenigsten schlechte von mehreren mittelmäßigen Varianten wählen?
Zurück zu Herrn Tober. Der reagierte prompt auf Menzels Zurückweisung – mit einer Dienstaufsichtsbeschwerde an den niedersächsischen Innenminister Schünemann. Tobers Vorwürfe: Die ICP habe bereits erheblich in das Projekt investiert, und seine Verhandlungen würden durch Menzels Intervention abgewürgt (WZ 18.10.2006). Wenn Tober ungefragt verhandelt und investiert, ist das aber sein Problem. Und seine Beschwerde wird keinen Erfolg haben. Denn erstens hat nicht der Innenminister die Dienstaufsicht über den OB inne, sondern der Rat der Stadt. Und zweitens hat Menzel – auch wenn die hiesige CDU das zwischenzeitlich etwas anders sah – hier das einzig Richtige zum Wohle der Stadt getan.

Vorsicht, Rückfallgefahr!

Doch schon sind die Hotelismus-Geschädigten neuen Infektionsherden ausgesetzt: Gleich drei neue Projekte wurden am 10.10. im Bauausschuss präsentiert. Am Seedeich in Höhe Jadestraße will ein Investor ein fünfgeschossiges Wohngebäude mit Bootshalle bauen, nebenan ist ein Wohn-, Hotel- und Geschäftsgebäude projektiert, und für den Standort des bisherigen WFT-Domizils am Südstrand planen gleich zwei Bewerber Hotel- und Appartementanlagen. Hier wird sich zeigen, ob das Immunsystem der Genesenden stark genug ist, um den Erregern Pecunia vulgare (dt.: Schnöder Mammon) und Betonius pratensis (dt.: Latenter Wiesenfraß) zu widerstehen.

 

(1) Ho|te|lis|mus der, [frz. Hôtelisme] (Psych., Med., Päd.), der durch vielfältige Faktoren ausgelöste Zwang, für imaginäre Gäste Beherbungspotentiale zu schaffen. Ähnliche Symptome zeigen sich in Bezug auf Wohn- und Freizeitanlagen. Betroffen sind in erster Linie Menschen mit ausgeprägten idealistisch-utopischen Visionen, oft mit wahnhafter Komponente. Der H. kann dazu führen, dass ganze Landstriche für das Beherbungsgewerbe nutzbar gemacht werden. Vereinzelt sind vom H. befallene Menschen beobachtet worden, die selbst vor der Zerstörung charakteristischer Bauten nicht Halt machten. Der H. war bis vor wenigen Jahren in erster Linie ein Problem in Gegenden mit hoher Sonneneinstrahlung (europ. Mittelmeergebiet). Heute wird vom H. auch aus kühleren Regionen Europas berichtet. H. zu heilen bzw. die Symptome zu unterdrücken wird als sehr schwierig bezeichnet. Der Ausbruch des H. geht meist mit einer ansteckenden Euphorie einher, die in der Lage ist, für einen völligen Realitätsverlust der Euphorisierten zu sorgen. Als Sofortmaßnahme wird ein Realitätsrückgewinnungsprogramm empfohlen. Als besonders erfolgreich hat sich das gemeinsame Lesen des Gegenwind erwiesen.

 

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