Kinderarmut 1
Apr. 032007
 

Arm durch Reichtum

Kinderarmut als kulturelles Schwerpunktthema

(iz) Die Künstlerin Christa Marxfeld-Paluszak unternahm gemeinsam mit Christina Heide von der Volkshochschule den Versuch, zum Thema „Kinderarmut“ über einen Monat ein Netzwerk verschiedenster Institutionen zu knüpfen. Ihr Ansatz erntete im Detail auch Kritik.


Karin Evers-MeyerDie TeilnehmerInnen der Auftaktveranstaltung wurden vor der Volkshochschule mit einer Protestaktion begrüßt. Einige Menschen, die sich in unserer Stadt seit langem unentwegt für soziale Rechte engagieren, standen dort mit einem Plakat: Ein bekanntes Wahl-Portrait von Karin Evers-Meyer (SPD), ergänzt durch die Sprechblase „Wir machten Kinderarmut, hatten aber Fraktions- und Koalitionszwang!“ Das störte natürlich (und sollte das auch) die „Wir-ziehen-doch-alle-an-einem-Strang“-Stimmung, die der Erwartungshaltung der meisten Anwesenden entsprach. Wobei die Protestierenden persönlich nichts gegen die Initiatorinnen der Veranstaltung haben.
Zu der Protestaktion gehörte noch ein Faltblatt, das im Stil des Original-Programms zur Veranstaltungsreihe aufgemacht war: „Zur Eröffnung des SPD / Grüne-Gemeinschaftsprojektes Kinderarmut am 2. März 2007 um 19 Uhr laden wir alle verarmenden und bereits verarmten Kinder sowie deren durch Hartz IV betroffene Eltern schmerzlich ein … Agenda 2010, wer dagegen war, melde sich bei der VHS.“ Auf der Rückseite alle am Informationsprojekt beteiligten Personen und Institutionen, mit dicken Fragezeichen versehen. Sie sind diejenigen, die das in Berlin verordnete Elend vor Ort ausbaden.
Immerhin war Frau Evers-Meyer in Form des Protestplakates zumindest irgendwie anwesend. Sie war nämlich Schirmherrin der Veranstaltungsreihe zur Kinderarmut, ließ sich aber ausgerechnet für diese Auftaktveranstaltung entschuldigen und ihr Grußwort durch Frau Heide überbringen. Damit pointierte sie – zwar ungewollt, aber im Ergebnis grandios – die Botschaft des Protestes. Die unter anderem lautete: Ihr habt den Bock zum Gärtner gemacht – ausgerechnet ein Mitglied der SPD-Fraktion im Bundestag, die damals überzeugt den Arm für die Menschen verachtenden Hartz-Gesetze hob, soll jetzt Schirmherrin sein im Kampf gegen die Folgen dieser Gesetzgebung – und deren großes Interesse am Problem sich in Abwesenheit niederschlug.
Die Demonstranten „haben den Sinn unserer Veranstaltung nicht so ganz verstanden“, meinte Christina Heide, wobei sie möglicherweise den Sinn der Protestaktion nicht ganz verstanden hat. Christa Marxfeld räumte später ein, bei der Auswahl der Repräsentantin etwas naiv gewesen zu sein. Ihr Engagement kommt eben aus dem Bauch. Vermutlich, hoffentlich wird ihr solch ein Missgriff nicht wieder passieren.
Kinderarmut 1„Arm durch Reichtum“ lautete Marxfelds Kernthese zur Kinderarmut. Diese hat komplexe Ursachen, aber die „Wohlstandgesellschaft“, die komplett und zunehmend ungerechte Verteilung von Geld, das eigentlich im Überfluss vorhanden ist, beschreibt ganz gut das Kernproblem. In ihrer Begrüßungsrede warf die Initiatorin weitere Schlaglichter auf die Thematik, die dann in Fachbeiträgen konkretisiert wurden: Definition von Armut, Auswirkungen bei Kindern, Armut hat viele Gesichter … Nachdenkenswert ihre These: „Auf Grund des gesamtgesellschaftlichen Problems werden wir zu einer Auseinandersetzung gezwungen.“ Viele würden sich einen Dreck um arme Kinder scheren, wenn nicht deren Verarmung und Verwahrlosung bis hin zur „Kriminalität“ ihre schöne heile Welt störte oder gar einen internationalen Image-Schaden für den Wirtschaftsstandort Deutschland bewirkte.
Kinderarmut 2Auch das (umstrittene) Thema Schuluniformen als Mittel gegen Ausgrenzung (und in diesem Zusammenhang auch Schulspeisung) sprach Christa Marxfeld an. Und: „Lebenslust und Lebensfreude muss geweckt werden durch Sport, Musik, Kreativität, Vereine …“. Ihr eigener Beitrag zum Thema bewegte sich auf der künstlerisch- emotionalen Ebene. So wagte sie den Versuch, sich mit eigenen Bildern in die kindliche Seele hineinzuversetzen. Ihre Ausstellung in der „Sezession Nordwest“ war ein – im wahrsten Sinne des Wortes – roter Faden der Veranstaltungsreihe. Rot, „die Farbe der Gefahr, der Warnsignale, der Aggression und Gefühlsausbrüche … auch die Farbe der Liebe und die Lieblingsfarbe der Kinder.“ Vor diesem farblichen Hintergrund, allerdings eher einem gedämpften, organischen statt Signal-Rot, präsentierte die Künstlerin ihre spontan wirkenden Gemälde. Den Versuch, sich malerisch in die kindliche Seele zu versetzen, ist gelungen. Der kleine Kreis, der sich nach dem Auftakt in der VHS in der Galerie zusammenfand, bewegte sich in einem anderen Universum. Mittendrin Sibylle Hellmann, die sich über die Bretter der Landesbühne hinaus auch mit den Dramen des Alltags auseinandersetzt, mal ein bisschen liest, mal entrückt Mundharmonika spielt, scheinbar planlos, spontan, kindlich eben. Kurz zuvor sprach Kunstpädagoge Winfried Baar noch über die Unwirtlichkeit des kindlichen Umfeldes, hier hing das Bild, auf dem ein Kind vom umgebenden Beton erdrückt wird.
Kinderarmut 3Zweiter zentraler Baustein des Projektes war eine Ausstellung in der Volkshochschule von Bildern, die Kinder zum Thema Kinderarmut geschaffen haben. Was empfinden PädagogInnen, SoziologInnen, KünstlerInnen dabei? Eine Reihe von Köpfen (!), in die Stichworte hineingeklebt sind, die wie Vordrucke aussehen: „Kein Urlaub“, „Hunger“, „kein Geld für Freizeit“ oder ähnlich. Kindermund? Eher entsteht der Eindruck: Da haben die Lehrkräfte vorgebetet, was dabei rauskommen soll. Das Ergebnis ist gerahmtes Papier, aber kein Einblick in die Kinderseele. Besser schon: Hände. Eine Hand bedeutet Kraft, Aktivität, etwas gestalten. Handumrisse, aus denen in kindlicher Phantasie Neues, Kraftvolles entsteht: Ein Baum oder lauter kleine agierende Figuren. Auffällig: Ein Bild von einer Kirche, davor eine Mülltonne, darin ein Kind, daneben ein Mensch, der ihm Almosen hinwirft, und: darüber, im Fenster, wie in der VIP-Lounge, ein Repräsentant der Kirche, im Ornat, der die Szene huldvoll lächelnd beobachtet. Eine Sonne gibt es auch – auf der anderen Seite der Kirchentür. Passend eine Collage aus dem Christus-Kindergarten: „Ich verzichte, damit ich einem anderen Kind eine Freude machen kann.“ Kinder, die wenig haben, verzichten zu Gunsten von Kindern, die gar nichts haben. So funktioniert Kapitalismus.
Im Erdgeschoss hängt ein Wunschbaum. Daran baumeln kleine Pappelefanten mit handgemalten Kinderwünschen. Elefanten sind groß und stark, haben aber in Wahrheit eine dünne Haut. Ein Kind möchte nicht „Freizeitaktivitäten“, sondern „Volleyball so gern spielen lernen“. Eines, dass der Vater Arbeit bekommt, damit sie mal Urlaub machen oder neue Sachen kaufen können. Auch ein drittes möchte Urlaub machen – in Vietnam. Sind da vielleicht Oma und Opa? Und schließlich: „Ich möchte gern mal nach Hooksiel.“ Danach kann eigentlich nichts mehr kommen.
Danach kamen noch, im ganzen März, Vorträge, Lesungen, Gesangsaufführungen und anderes von Kindern und Erwachsenen. Ein Versuch, immerhin, das Phänomen Kinderarmut aus der kurzlebigen Schlagzeile nachhaltig in den Alltag zu befördern. Schauen wir mal, ob sich die Mühen der VeranstalterInnen gelohnt haben.

Reiches Land – arme Kinder
heißt eine Broschüre, die der Regionalverbund der Erwerbsloseninitiativen herausgegeben hat. Dieser ist zu entnehmen, wie weit Kinder und Jugendliche mit ihrem monatlichen Hartz-IV-Regelsatz kommen – nämlich nicht besonders weit. Im Vorwort wird das Geheimnis gelüftet, wie diese Regelsätze überhaupt zustande kommen. Wie in der Sozialhilfe, sind sie aus dem Regelsatz der Erwachsenen abgeleitet. Der bezieht sich auf das Einkommen und Konsumverhalten der „untersten“, d. h. finanziell schwächsten 20% der Bevölkerung. Weniger als 45% dieses Betrages stehen den Beziehern von Hartz IV-Leistungen zur Verfügung.
Die Regelsatzverordnung unterscheidet zehn verschiedene Warengruppen. Für Nahrungsmittel werden 38% des Regelsatzes veranschlagt, das sind für Kinder bis 14 Jahre (Regelsatz: 207 Euro monatlich) 2,62 Euro pro Tag, für Jugendliche und junge Erwachsene (15-25 Jahre, Regelsatz 276 Euro monatlich) 3,50 Euro. Für Bekleidung und Schuhe stehen Kindern monatlich 20,70 Euro zur Verfügung, der älteren Gruppe 27,60 Euro.
Eine Schüler-Monatskarte kostet bei den Stadtwerken Wilhelmshaven 32,60 Euro. Wer an Schultagen ab 14 Uhr sowie auch an Wochenenden, Ferien- und Feiertagen mobil sein möchte, muss für 10 Euro die „Schülerkarte plus“ dazukaufen. Das kostet zusammen etwa das Vierfache dessen, was der Regelsatz für den ÖPNV vorsieht (10,87 Euro für Kinder bis 14 Jahre). Die Alternative wäre ein Fahrrad. Dafür sieht der Regelsatz, inklusive Ersatzteile, monatlich 55 Cent vor. Mit etwas Glück kriegt man so nach 15 Jahren (180 Monaten) Sparen ein gebrauchtes Fahrrad für 100 Euro und kann dann zumindest das Abschlusszeugnis auf eigenen Rädern nach Hause bringen. Zu Fuß gehen ist mit zunehmender Ausdünnung der Schulstandorte auch keine echte Alternative. Also schwarzfahren oder die 20-30 fehlenden Euro für den Bus aus der Warengruppe Essen und Trinken abzweigen? Oder Schule schwänzen?
Das reine Zahlenwerk allein ist schon erschütternd, erschließt sich aber erst richtig, wenn man mit dem Taschenrechner solche Zahlenspiele wie oben veranstaltet. Um den Zugang zu den Konsequenzen aus Hartz IV zu erleichtern, ist die Broschüre (Gestaltung: Hans-Günter Osterkamp) plakativ mit Bildern aus Hochglanzprospekten illustriert, ergänzt durch kurze und prägnante „Werbesprüche“.
Zum Abschluss präsentiert die Broschüre Berechnungen des Statistischen Bundesamtes, wonach Kinder bis 14 Jahren einen finanziellen Bedarf von 549 Euro monatlich haben – mehr als das Zweieinhalbfache des derzeitigen Sozialgeldes. Erwerbsloseninitiativen und Gewerkschaften fordern die – immer noch bescheidene – Anhebung auf 300 Euro.
Die Broschüre „Reiches Land – arme Kinder“ und weitere Materialien zum Thema („Ein Hartz für Kinder“ u. a.) können unter www.erwerbslos.de herunter geladen werden.

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