Gesellschaft im Reformprozess
Apr 032007
 

Abgehängt!

Die Gesellschaft ist tief gespalten

(noa) Die LAW-Mitgliederversammlung beschäftigte sich am 7. März mit der Studie „Gesellschaft im Reformprozess“. Diese Studie wurde im Auftrag der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung im vergangenen Jahr von „Infratest“ durchgeführt. Selber schreibt das beauftragende Institut: „Die Friedrich-Ebert-Stiftung untersucht die Reformbereitschaft der Deutschen“. Doch in Wirklichkeit scheint das Erkenntnisinteresse woanders zu liegen.


„Die (nicht einfache) strategische Herausforderung liegt darin, die solidarischen Gruppen im oberen Teil der Gesellschaft, die verunsicherte Arbeitnehmermitte und die erreichbaren Gruppen im unteren Bereich politisch zu integrieren“, schreibt die FES selber in ihrer Vorbemerkung zur Studie. Diese Einteilung der Gesellschaft hat im Herbst 2006 zu einem Streit um des Kaisers Bart geführt; alle möglichen Leute wehrten sich dagegen, als zur „Unterschicht“ gehörig bezeichnet zu werden, und Müntefering sagte damals in einem Fernsehinterview: „Wir haben keine Schichten in Deutschland – wir sind eine Gesellschaft.“

Drei-Drittel-Gesellschaft – neun „politische Milieus“

Dort war die zentrale Fragestellung: „Welche Gruppen gemeinsamer Werte und politischer Grundorientierung lassen sich identifizieren?“ Gut 3000 Menschen wurden befragt, was ein repräsentatives Bild der bundesdeutschen Gesellschaft ergeben dürfte. Und anhand von zahlreichen Fragen wurden neun „politische Milieus“ festgestellt, die sich in ihrer sozialen Lage, in ihren polischen Meinungen, ihrem Wahlverhalten, ihrer Weltanschauung deutlich voneinander abgrenzen lassen.
„Alles in allem zeigt sich das Bild einer Drei-Drittel-Gesellschaft. Die Menschen im ‚oberen Drittel’ haben recht gesicherte Chancen und Lebensperspektiven. Allerdings ist dieses Drittel politisch gespalten zwischen eher linksliberalen (…) und liberalkonservativen (…) Gruppen. In der ‚Mitte’ ist die Verunsicherung längst angekommen. … Im ‚unteren’ Bereich wächst die Unzufriedenheit…“

„Oben“

Da gibt es die „Leistungsindividualisten“, die 11 % der Gesellschaft ausmachen (10 % in den alten Bundesländern, 15 % im Osten). Sie gehören mehrheitlich der Oberschicht und der oberen Mittelschicht an, verfügen über ein überdurchschnittliches Einkommen, wollen noch mehr erreichen und streben die Auflösung des Solidarsystems an. Politisch distanzieren sie sich entschieden von der Idee des Sozialismus und haben bei der letzten Bundestagswahl zu 52 % die Union oder die FDP und zu 33 % SPD gewählt, sind überdurchschnittlich häufig langfristig der FDP zugeneigt. Die hat die FES mit den „solidarischen Gruppen im oberen Teil der Gesellschaft“ wohl nicht gemeint.
Auch nicht die „etablierten Leistungsträger“ (15 %; im Westen 17 %, im Osten 7 %), die denselben Schichten entstammen wie die vorgenannte Gruppe, sich von dieser aber darin unterscheiden, dass sie nicht nach Deregulierung schreien, sondern die Gesellschaft in ihrem Sinne und für ihre Interessen reguliert sehen wollen und mit der großen Koalition äußerst zufrieden sind. Da ihre langfristige Parteineigung hauptsächlich der Union gilt, weiß die SPD, dass sie in dieser Gruppe nicht um Wähler zu buhlen braucht.
Anders die „kritischen Bildungseliten“ (9 %; im Westen 9 %, im Osten 8 %). Auch sie sind der Oberschicht und der oberen Mittelschicht zuzurechnen, sind aber nicht so sehr hinter dem Geld her wie die beiden zuvor genannten Gruppen (vielleicht, weil sie schon so viel davon haben), wollen eine liberale, offene und tolerante Gesellschaft, streben eine solidarische Gesellschaft an, sind stärker als andere zu finanziellen Opfern für die Sicherung der Sozialsysteme bereit und haben bei der letzten Bundestagswahl zu 38 % für die SPD, zu 29 % für die Grünen und zu 18 % für die Linkspartei gestimmt. Von denen wird die SPD mehr auf ihre Seite ziehen wollen.
Auch das „engagierte Bürgertum“ (10 %; im Westen 11 %, im Osten 6 %), ebenfalls den oberen Schichten entstammend, orientiert sich an diesen Werten, ist aber mit der großen Koalition zufriedener als die kritischen Bildungseliten und hat zu 44 % SPD und zu 15 % die Grünen gewählt – die muss die SPD sich warm halten.

„Mitte“

So weit das „obere Drittel“ der Gesellschaft. In der Mitte machte die Studie die „zufriedenen Aufsteiger“ (13 %; West 14 %, Ost 8 %) aus. Sie kommen aus einfachen Verhältnissen und haben einen Aufstieg in die Mittelschicht geschafft, haben ein leicht überdurchschnittliches Einkommen und sind mit sich und dem Staat zufrieden. Ihre langfristige Parteineigung gilt eher der Union – nicht so interessant für die SPD.
Die Angehörigen der „bedrohten Arbeitnehmermitte“ (16 %; im Westen 15 %, im Osten 18 %) zählen ebenfalls zur Mittelschicht, haben aber ein leicht unterdurchschnittliches Einkommen und haben häufiger als andere Angst, ihren Lebensstandard nicht halten zu können und wünschen sich einen regulierenden Staat, der eine umfassende soziale Absicherung garantiert. Sie haben zu 44 % SPD gewählt, doch in ihrer Gruppe hat die Linkspartei an Zustimmung gewonnen – die will die SPD zurückgewinnen

„Unten“

Die „selbstgenügsamen Traditionalisten“ werden in der Studie der unteren Schicht bzw. unteren Mittelschicht zugerechnet, von der FES zum „unteren Drittel“ der Gesellschaft gezählt. Sie stellen 11 % der Gesellschaft (im Westen 12 %, im Osten 10 %), haben ein weit unterdurchschnittliches Einkommen und fühlen sich stark verunsichert. Unter ihnen ist der Anteil der Nichtwähler groß; ihre Parteibindung gilt vorrangig der Union.
Anders die „autoritätsorientierten Geringqualifizierten“ (7%; im Westen 7 %, im Osten 5 %), denen es ebenso schlecht geht und die ebenso große Zukunftsangst haben: Sie haben zwar bei der letzten Bundestagswahl mehrheitlich die Union und die FDP gewählt, ihre langfristige Parteineigung gilt allerdings eher der SPD. Hier liegt ein Feld, das zu beackern sich für die SPD lohnt.
Das „abgehängte Prekariat“ mit 8 % der Bevölkerung (4 % im Westen, 25 % im Osten) war dem untersuchenden Institut eine Wortneuschöpfung wert. „Prekariat“ ist abgeleitet von „prekär“, was „unsicher“, „heikel“ und „schwierig“ bedeutet. Es ist die gesellschaftliche Gruppe, der es wirklich beschissen geht; ihre Angehörigen sind ohne Erwerbseinkommen und ohne Aussicht, wieder Arbeit zu finden, oder sie haben Niedriglohnjobs – abgehängt eben. Diese Gruppe stellte bei der letzten Bundestagswahl den höchsten Nichtwähleranteil; 26 % von ihnen haben die Linkspartei, 6 % die Nazis gewählt, und ihre langfristige Parteineigung gilt vor allem der Linken. Abgehängt ist dieses „politische Milieu“ nicht nur vom gesellschaftlichen Leben, sondern auch von der SPD.

Von der SPD abgehängt

Die gegenwärtige Mindestlohndebatte, die wir im Fernsehen und in den Zeitungen verfolgen können, wäre vor der Veröffentlichung der Studie undenkbar gewesen. Damals hat die SPD solche Forderungen und Ideen weit von sich gewiesen. Heute streitet sie sich innerhalb der großen Koalition mit dem Partner CDU/CSU heftig um dieses Thema, will wenigstens ein Gesetz gegen sittenwidrige Löhne durchsetzen und erwähnt auf einmal häufig, dass ein Mensch, der acht Stunden am Tag arbeitet, von seinem Lohn doch leben können soll. Das zielt auf die „bedrohte Arbeitnehmermitte“ und die „autoritätsorientierten Geringqualifizierten“. Und die kleine Rentenerhöhung, die sie ankündigt, soll die Gruppe der „selbstgenügsamen Traditionalisten“, die mehrheitlich aus Frauen und zu großen Teilen aus Rentnerinnen besteht, wieder stärker an die SPD binden.
Doch eine Verbesserung der Lage der Langzeitarbeitslosen, etwa eine Erhöhung des Arbeitslosengeldes II, ist für die SPD kein Thema. Und auf lokaler Ebene hat die SPD den politischen Schlenker von Münte und Genossen mitgemacht: Anders lässt sich z.B. Eberhard Menzels Auftritt bei der Arbeitsloseninitiative im Januar (der Gegenwind berichtete darüber im der Ausgabe 224) nicht deuten.

Quer durch alle Schichten

Neben der Erkenntnis der Drittelung unserer Gesellschaft und der Ermittlung der politischen Milieus förderte die FES-Studie weitere interessante Ergebnisse zutage: So wurde festgestellt, dass seit 1976, als 85 % der Deutschen sich einigermaßen fest einer Partei zugeneigt zeigten, die Parteibindung der WählerInnen bis 2006 auf 53 % gesunken ist. Da lohnt es sich zu untersuchen, an wen man sich mit seiner Politik und seinem Programm wenden muss.
Das war wohl u.a. auch ein Interesse der LAW an der Beschäftigung mit dieser Studie. Und die Tatsache, dass nicht nur die, die aus dem gesellschaftlichen Leben mehr und mehr ausgegrenzt werden und immer mehr in die Armut getrieben werden, links gewählt haben, sondern auch „Bessergestellte“, die eine gesellschaftliche Veränderung nicht deshalb anstreben, weil sie sie für ihr eigenes Überleben brauchen, sondern einfach deswegen, weil sie gerecht ist, zeigt sich ja auch daran, wer LAW-Veranstaltungen besucht und interessiert mitdiskutiert.
Sehr interessiert nahmen die Teilnehmer der Veranstaltung die allgemeinen Erkenntnisse aus der Studie zur Kenntnis, so ganz besonders das Ergebnis, dass 83 % aller Befragten die soziale Gerechtigkeit als „sehr wichtig“ bzw. „wichtig“ bewerteten – so sieht es auch die LAW als WählerInnengemeinschaft für Soziale Gerechtigkeit.

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