Wendepunkt
Jul 011998
 

Geschafft!

Der „Wendepunkt e.V.“ hat endlich eine Trägervereinbarung mit der Stadt

(noa) Am 8. Juni stellten die im „Wendepunkt e.V.“ zusammengeschlossenen freien MitarbeiterInnen der Stadt ihre Arbeit in den Familien ein und zwangen damit die Stadt an den Verhandlungstisch zurück. Sie setzten mit einem einwöchigen Ausstand ihre Forderung nach einem Rahmenvertrag durch. Zu diesem „Streik“ gehörte eine gehörige Portion Mut, denn ebenso gut hätte er ins Auge gehen können.

Der „Wendepunkt e.V.“ ist ein Zusammenschluss von Fachkräften, die einen Teil der kommunalen Pflichtleistungen nach dem seit 1991 geltenden Kinder- und Jugendhilfegesetz erfüllen. Sie leisten sozialpädagogische Familienhilfe und Erziehungsbeistandschaft. Diese ambulanten Hilfen für Familien in Überforderungs- und Überlastungssituationen er- möglichen es in vielen Fällen, Kinder in ihren Familien zu belassen und auf eine Unterbringung in Pflegefamilien oder Heimen zu verzichten. Diese letzteren Maßnahmen sind laut KJHG „nachgeordnet“, d.h. sie greifen nur, wenn die ambulanten Hilfen nicht helfen, Eltern nicht in die Lage versetzt werden können, ihre Kinder angemessen zu erziehen. Neben anderen Vorteilen für die Kommunen spart das System der ambulanten Hilfen Geld, denn Fremdunterbringung ist teuer.

Träger ohne Trägerstatus
Die Stadt Wilhelmshaven stellte 1993 eine pädagogische Mitarbeiterin im Sozialdienst des damaligen Jugend- und Sozialamtes ein, um den neuen gesetzlichen Vorgaben nachzukommen. Daneben arbeiteten schon einige Honorarkräfte in diesem Bereich, und es wurden in der Folgezeit mehr, während parallel dazu die Zahl der Fremdunterbringungen sank.
Die MitarbeiterInnen in der sozialpädagogischen Familienhilfe stellten faktisch eine Abteilung des Jugendamtes dar, waren aber bei der Stadt nicht fest angestellt. Sie hatten keinen Arbeitsplatz im Rathaus, keinen Schreibtisch, kein Diensttelefon, und sie arbeiteten jede/r für sich.
1995 gründeten die damals 10 freien MitarbeiterInnen den Verein „Wendepunkt e.V.“ und schufen sich eine Struktur außerhalb des Rathauses. Der Zusammenschluss ermöglichte ihnen den kollegialen Austausch, gemeinsame Fortbildungen und Supervision. Mit der Anmietung eigener Räumlichkeiten in der Rheinstraße 168 entstand eine auch äußere, sichtbare Struktur. Es entstand allerdings kein „Vereinsheim“, sondern ein Arbeitsplatz, an dem auch das Angebot über die sozialpädagogische Familienhilfe und die Erziehungsbeistandschaft hinaus erweitert werden konnte auf eine Müttergruppe, einen Miniklub, eine Mädchen- und eine Jungengruppe. Die betreuten Familien sind nicht mehr allein darauf angewiesen, dass die Sozialarbeiterin oder der Psychologe zur verabredeten Zeit zu ihnen nach Hause kommt, sondern können zwischendurch selber Kontakt aufnehmen.
Während in der Rheinstraße die Strukturen sich entwickelten und mittlerweile einen festen Rahmen bilden, hatten die MitarbeiterInnen weiterhin den unsicheren „Hire and Fire“-Status von Honorarkräften bei der Stadt. Die Konstruktion „eingetragener Verein“ konnte/sollte ihnen auch als eine Möglichkeit der Interessenvertretung dienen. Die im Oktober 1996 schriftlich formulierte Forderung nach festen Arbeitsplätzen bedeutet allerdings nicht, dass sie feste Mitarbeiterinnen der Stadt werden wollen. Stattdessen strebte das Team als Verein eine Rahmenvereinbarung mit der Stadt an.

Ziel: eine Trägervereinbarung
Das KJHG verpflichtet die Kommunen zwar zu einer Reihe von Leistungen und Angeboten, legt sie aber nicht darauf fest, diese Angebote in eigenen Ämtern oder Abteilungen vorzuhalten, sondern sieht durchaus die Zusammenarbeit mit freien Trägern vor – etwa so, wie auch die Krankenkassen häusliche Krankenpflege ermöglichen und finanzieren, nicht aber selber organisieren müssen, sondern von kirchlichen Sozialstationen oder freien Vereinen durchführen lassen können.
Die Verhandlungen zwischen dem „Wendepunkt e.V.“ und der Stadt Wilhelmshaven zogen sich über zwei Jahre hin, es wurde viel Papier beschrieben, viel geprüft, und im Frühjahr stand ein unterschriftsreifer Entwurf. Doch dann begann etwas, was für die verhandlungsführenden Vereinsmitglieder zur Nervenzerreißprobe wurde. Der zuständige Stadtrat Kottek erinnerte sich angeblich heute nicht mehr, dass er gestern oder letzte Woche diese oder jene feste Zusage gemacht hatte, die Verhandlungspartner bei der Stadt reagierten nicht auf gefaxte Anfragen, in Gesprächen wurde „gemauert“. Nach einigen Wochen entschloss sich das Team, Druck auszuüben und die Arbeit niederzulegen.

„Streik“ – oder was?
Der „Streik“ war ein Spagat: Um Druck zu erzeugen, musste es für die Stadt so aussehen, als finde keinerlei Betreuung statt, als seien die Familien völlig unversorgt. Um die Familien nicht allein zu lassen, organisierte das Wendepunkt-Team einen Notdienst, war also während der ganzen Zeit in den Räumlichkeiten des Vereins anwesend und erreichbar. Und zur Vorbeugung vor eventuellen Sanktionen sollte dieser Notdienst auch bewiesen werden können.
Zu Beginn der Aktion war natürlich überhaupt nicht abzusehen, wie lange sie dauern würde, ob man u.U. zwei Monate oder länger ohne Einkommen existieren müsste und möglicherweise schließlich ohne Rahmenvereinbarung und ohne Honorarvertrag dastehen würde. Wie es zu den Spielregeln bei harten Verhandlungen gehört, gab es markige Worte von Herrn Kottek. Er wolle die Situation juristisch prüfen lassen, und: Erpressen lassen wolle die Stadt sich nicht, schließlich gäbe es noch andere Träger, die sozialpädagogische Familienhilfe anbieten könnten.

Geburt eines Mythos
Ob das „Wendepunkt“-Team an letztere Möglichkeit gar nicht gedacht hatte oder den Gedanken im Eifer des Kampfes wieder beiseite geschoben hatte, lässt sich nicht mehr feststellen. Am zweiten „Streik“tag ging plötzlich die Sorge um, ein anderer Verein würde nicht nur als Streikbrecher auftreten, sondern am Ende sogar statt des „Wendepunktes“ einen Rahmenvertrag bekommen. Es ist auch nicht mehr feststellbar, warum diese Sorge sich gerade an den „Freien Sozialen Diensten Friesland e.V.“ festhakte. Dienstag gegen Abend, als dieses Gespenst im Raum stand, war dort niemand mehr zu erreichen, und so gingen die Wendepunkt-Leute am Mittwoch in eine neue Verhandlungsrunde mit der Ungewissheit, ob die Stadt schon mit einem neuen Träger in Kontakt getreten war oder nicht.
Die Freien Sozialen Dienste Friesland jedenfalls waren von der Stadt Wilhelmshaven nicht angesprochen worden, sondern erfuhren erst durch die telefonische Nachfrage einer Kontaktperson von der Situation des „Wendepunktes“ und den Befürchtungen, die Kotteks Andeutung ausgelöst hatte. Diese Nachricht, verbunden mit der Mitteilung, dass man bei FSD auch nicht vorhabe, in Wilhelmshaven in die sozialpädagogische Familienhilfe einzusteigen, erreichte das „Wendepunkt“-Team am Verhandlungstisch und löste so große Erleichterung aus, dass der erste Teil der Information nicht ganz durchdrang. Der Mythos, dass die Solidarität der FSD den „Wendepunkt“ gerettet habe, wurde geboren. Angesichts dessen, dass vor einem Jahr dieser Verein im umgekehrten Sinne Opfer einer Falschinformation wurde (in sozialpädagogischen Fachkreisen wurde verbreitet, die FSD Friesland seien im Begriff, anderen Trägern hier Arbeit „abzugeiern“), ist es wohl ausgleichende Gerechtigkeit, wenn jetzt das Gerücht kursiert, sie hätten aus Solidarität ein verlockendes Angebot ausgeschlagen. (Die FSD Friesland führen in Wilhelmshaven ambulante psychiatrische Krankenpflege durch, eine Leistung, die kein anderer Träger anbieten kann, und sie haben nicht vor, irgendwo eine Leistung anzubieten, wo diese schon von einem anderen Träger vorgehalten wird.)

Ziel erreicht
In der Verhandlungsrunde am Mittwoch kam es nun nach langem Hin und Her zur Einigung. Die Rahmenvereinbarung wurde in derselben Woche noch mit sämtlichen erforderlichen Unterschriften versehen. Am 17. Juni nahmen die MitarbeiterInnen die Arbeit in den Familien wieder auf.
Die Trägervereinbarung tritt am 1. Juli in Kraft. Ab dann ist der „Wendepunkt“ nicht mehr nur der Zusammenschluss einiger freiberuflich tätiger Fachkräfte, sondern ein freier Träger. Die Beschäftigten sind dann nicht mehr Honorarkräfte der Stadt, sondern Beschäftigte ihres Vereins, und der finanzielle und organisatorische Rahmen ihrer Arbeit ist gesichert.

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