Kaiserbalje
Jul 011998
 

Gespräch mit einem Gutachten

Bedarfsanalyse für einen Anschluss Wilhelmshavens an das deutsche Binnenwasserstraßennetz

(red) Genau wie in der Jade-Port-Studie (Gegenwind Nr. 145) geht es in der Bedarfsanalyse (erstellt von planco-consulting, Hamburg, im Auftrag des Niedersächsischen Hafenamtes – Januar 1998) nicht um die Schaffung von Arbeitsplätzen, die Höhe von Steuer- und Gebühreneinnahmen, um Bau- und Unterhaltskosten oder gar den Umwelt- und Landschaftsverbrauch, sondern ausschließlich um die Schätzung von Tonnen umzuschlagender bzw. ins Binnenland zu transportierender Massengüter – insbesondere Ölprodukte und Kohle.

Fiktive Fragen an die Gutachter – Antworten bestehend aus Zitaten aus der Bedarfsanalyse (kursiv).

Gegenwind: Wurde die Trassenführung Kaiserbalje in der Bedarfsanalyse untersucht?
Gutachten: In den vergangenen Jahren sind (…) die Möglichkeiten untersucht worden, eine Verbindung durch eine begrenzte Vertiefung der Kaiserbalje für Binnenschiffe mit einer Ladung von 1.000 Tonnen herzustellen. Dieser Ansatz hat sich bisher (…) nicht auf eine für die Schifffahrt befriedigende Weise realisieren lassen, da die erforderliche Vertiefung im Bereich des natürlichen Wattrückens auf hydrologische und morphologische Bedenken stößt. Daher beschäftigt sich die vorliegende Studie auftragsgemäß ausschließlich mit der Herstellung einer Kanalverbindung zwischen dem Jadebusen und dem deutschen Binnenwasserstraßennetz, während die Alternative Kaiserbalje keine besondere Berücksichtigung findet.

Führt ein Binnenwasserstraßenanschluss Wilhelmshavens zu allgemeinem Wachstum des Güterverkehrsaufkommens?
Es wird angenommen, dass der Kanalanschluss Wilhelmshavens nicht zu Neuverkehr in dem Sinne führt, dass die Schaffung einer solchen Verbindung zusätzliche Verkehrsmengen erzeugt, die es ohne den Kanalanschluss gar nicht geben würde. (Beispiel: Die Gesamtmenge der nach Deutschland eingeführten Kraftwerkskohle wird sich durch einen Kanalanschluss nicht verändern, sie wird lediglich andere Wege nehmen.)

Der Ausbau der Niedersachsenbrücke ist Ausgangspunkt der Analyse

Doch reicht ein Kanalanschluss sicherlich dazu aus, Transportgüter von anderen Häfen über Wilhelmshaven umzulenken?!
(Es) muss bereits an dieser Stelle die Erkenntnis hervorgehoben werden, dass ohne die Fähigkeit zur Abfertigung von Großschiffen – vor allem im Kohleumschlag – nicht damit gerechnet werden kann, auch nur annähernd ein Verkehrsaufkommen zu erreichen, das die Herstellung eines Binnenwasserstraßenanschlusses rechtfertigen würde. Daher ist für alle weiteren Analysen von der Annahme ausgegangen worden, dass an der Niedersachsenbrücke mindestens die Möglichkeit zur Abfertigung von Capesize-Schiffen (Schiffe, deren Abmessungen für die Kohleumschlagplätze in Südafrika optimiert sind) mit einer Ladefähigkeit von 150.000 Tonnen geschaffen wird.

Konkurrenzkampf bis aufs Messer – Was bleibt da hängen in Wilhelmshaven?

Wird Wilhelmshaven durch beide Maßnahmen – Kanalanschluss und Ausbau der Niedersachsenbrücke – Transporteure an sich binden können?
Die Hafenwahl für den Umschlag von transportkostenempfindlichen trockenen Massengütern wird bei einer Reihe von Produkten „auf Sicht“ betrieben, d.h., der Importeur legt sich nicht auf längere Zeit in der Hafenwahl fest, sondern hält sich die Möglichkeit offen, je nach Marktlage entsprechend den jeweiligen Angeboten zu disponieren.
Durch den Anschluss Wilhelmshavens an das norddeutsche Kanalsystem, (werden) jeweils nur Teilmengen verlagert. Diese Teilmengen können im Einzelnen nicht „berechnet“ werden, weil sie von vielen Faktoren abhängig sind, die im Einzelnen nicht erfasst werden können. Es muss daher grundsätzlich mit Annahmen gearbeitet werden, hinsichtlich der Verkehrsmengen, die (…) als Folge des Kanalanschlusses verlagert werden.

Wie weit würde Wilhelmshavens Versorgungsbereich für kanalansässige bzw. „nasse“ Betriebe reichen?
Abgrenzung des Wettbewerbsbereichs Wilhelmshavens im Hinterlandverkehr per Binnenschiff (gepunktete Trassenabschnitte; Red.)Grafik Planco

Wie stehen die Chancen, Wilhelmshavens Hinterland durch Binnenschiffsanschluss Richtung Nordrhein-Westfalen bzw. nach Mittel- und Ostdeutschland auszudehnen?
Eine Ausdehnung dieses engeren Hinterlandes Wilhelmshavens nach Südwesten und Osten ist wegen der starken Position der ARA-Häfen (Antwerpen-Rotterdam-Amsterdam) im Westen mit der Nähe der Rheinschiene sowie Hamburgs und Brunsbüttels im Osten (…) nicht ohne weiteres möglich.

Kann Wilhelmshaven sich seines natürlichen Hinterlandes sicher sein?
Die Verlader begeben sich nicht gern in die Abhängigkeit eines einzelnen Hafens, sondern ziehen bewusst immer wieder auch andere Seehäfen in ihre Dispositionen ein, um den dadurch geförderten Wettbewerb um das jeweils günstigste Angebot nutzen zu können.

Ein Kanal für Öltransporte und ein bisschen Kleinkram?

Welche Güterarten in welchen Mengen könnten nach Schätzung der Gutachter mit dem Europaschiff (Ex Euro-Normschiff für den Ausbau europäischer Binnenwasserstraßen; – Länge: 85 m, Breite 9,50 m, max. Tiefgang 2,50 m, Tragfähigkeit 1.350 Tonnen. Abgelöst wurde es mittlerweile es von dem Großgütermotorschiff (L: 111 m, B.: 11,40 m, m.T.: 3,00 m, Tragfähigkeit ca. 3.000 Tonnen), auf welches Flüsse und Kanäle zugerichtet werden sollen) transportiert werden, wenn es jetzt schon einen entsprechenden Kanal via Butjadingen zur Weser geben würde?
Insgesamt beträgt die Aufkommensschätzung für das Jahr 1995 etwa 2,3 Mill. Tonnen. Die Gesamtmenge setzt sich (…) aus 0,5 Mill. Tonnen Importkohle, 1,4 Mill. Tonnen Mineralölprodukte und knapp 0,4 Mill. Tonnen sonstige Verkehre zusammen.

Wie entwickeln sich nach Einschätzung der Gutachter die obigen Transportaufkommen bis zum Jahre 2010?
Auf Grundlage der aus der BVWP (Bundesverkehrswegeplanung) übernommenen Projektionen ergäbe sich ein Gesamtaufkommen von rd. 2,6 Mill. Tonnen, das sich aus 0,7 Mill. Kohle, 1,45 Mill. Tonnen Mineralölprodukte und 0,43 Mill. Tonnen sonstige Verkehre zusammensetzt.

Wer kommt als Güterverkehrserzeuger für einen Binnenschifffahrtsanschluss Wilhelmshavens in Frage?
Mineralölprodukte: Die Wilhelmshavener Raffineriegesellschaft ist an einer Kanalverbindung zur Weser sehr interessiert, sie verspricht sich davon einen zusätzlichen Absatz von Mineralölprodukten im Raume Hannover, Bremen, Osnabrück, Salzgitter, wobei der Schwerpunkt im Bereich Hannover läge. Die zusätzliche Absatzmenge würde nach Einschätzung der Raffinerie in der Größenordnung von 1,5 – 2,0 Mill. Tonnen liegen (…).
Kohle: Der Betreiber der Niedersachsenbrücke ist am weiteren Ausbau des Kohleumschlags nicht nur für das ansässige Kraftwerk, sondern auch für Kraftwerke im Hinterland interessiert. Eigene Vorstellungen über den möglichen Umfang entsprechender Umschlagmengen sind vom Betreiber bisher nicht entwickelt worden. Konkrete Vorstellungen bestehen zur künftigen Versorgung des Kraftwerks Heyden (Kohlekraftwerk an der Weser zwischen Nienburg und Minden), das von deutscher Steinkohle auf Importkohle umgestellt wird und im Jahre 1999 den Importkohlebetrieb aufnehmen soll.
Mit deutscher Kohle wurde Heyden ausschließlich per Bahn versorgt, obwohl ein Kran für den Umschlag vom Binnenschiff vorhanden ist.
Nach der Auffassung von Kraftwerksbetreibern könnte Wilhelmshaven auch ohne die Herstellung eines Binnenwasserstraßenanschlusses in den Kohleumschlag für das norddeutsche Hinterland einbezogen werden, wenn das Importgeschäft entweder zweihäfig in Kombination mit Nordenham mit einem Zugang zum deutschen Kanalsystem betrieben oder die Bahn als Hinterlandverkehrsträger zur Bedienung sog. „trockener Plätze“ genutzt würde.
Sonstige Güter: Bei den „sonstigen Gütern“ handelt es sich vor allem um Baustoffe und Schrott sowie um kleinere Mengen anderer Güterarten. Bei den befragten Baustoffhändlern (importierte Schüttgüter wie Sand, Kies, Split) wurden keine großen Verlagerungen zugunsten der Binnenschiffahrt erwartet. (…) Von einem Baustoffhändler wird das mögliche Verkehrsaufkommen seiner Firma unter den heutigen Marktverhältnissen auf maximal 50.000 Jahrestonnen geschätzt.
Im Schrottverkehr werden mehr Möglichkeiten für die Nutzung eines Kanalanschlusses gesehen. (…) Dabei wird vor allem erwartet, dass dann eine Belieferung der Preussag Stahl AG in Peine-Salzgitter möglich sein wird – nicht nur weil die Binnenschiffsfracht deutlich niedriger sein wird als die heutigen DB-Sätze, sondern auch weil damit gerechnet wird, dass die Bahn im Falle des Vorhandenseins eines Kanalanschlusses eher zu Preiszugeständnissen bereit sein wird. (…) Im günstigsten Falle (wäre) insgesamt ein Binnenschifffahrtsaufkommen von etwa 150.000 Tonnen pro Jahr (Empfang + Versand) zu erwarten.
Insgesamt bliebe das von Wilhelmshavener Firmen für den Bereich „sonstige Güter“ erwartete Verkehrsaufkommen in der Binnenschifffahrt deutlich außerhalb der Menge, die bei verkehrsstatistischen Schätzungen als Zuschlag für nicht direkt erfasste Binnenschiffsverkehre eingeplant worden sind (ca. 400.000 Tonnen pro Jahr).
Erz: Zu der Möglichkeit des Erzumschlages in Wilhelmshaven können an dieser Stelle (noch) keine abschließenden Aussagen getroffen werden, da ein Gespräch mit einem für den Erzbezug zuständigen und autorisierten Vertreter der Stahlwerke bisher nicht geführt werden konnte. (…) Aus anderen Quellen ist allerdings bekannt, dass die Stahlwerke Bremen durch den systematischen Einsatz von Selbstentladern für skandinavisches Erz – auf der Strecke von Rotterdam nach Bremen – auch für Erz aus Übersee ein leistungsfähiges und kostengünstiges Transportsystem aufgebaut haben, das durch einen Umschlag in Wilhelmshaven kaum noch verbessert werden kann.

Die Hafenkonkurrenten

Über welche Häfen wird zur Zeit Kohle importiert, und welche Chancen bieten sich für Wilhelmshaven?
Wichtige Importhäfen für Kohle im Wettbewerbsbereich Wilhelmshavens sind die Häfen Rotterdam und Amsterdam, Nordenham, Brunsbüttel, Hamburg und Rostock. (…) Chancen für Wilhelmshaven im künftigen Kohleumschlag werden nur dann gesehen, wenn die Niedersachsenbrücke für die Abfertigung großer Capesize-Schiffe ausgebaut wird. (…) Im Hafenwettbewerb um den Kohleumschlag spielen nicht nur die einsetzbare Schiffsgröße und die bloße Existenz eines Kanalanschlusses, sondern vor allem die Qualität der Hinterlandsanbindung eine Rolle. Für die Binnenschifffahrt ist der Elbe-Seitenkanal wegen der größeren Wassertiefe, der Beschränkung auf eine Schleuse und dem geraden Trassenverlauf sehr viel attraktiver als die Weser mit ihrer geringen Wassertiefe und kurvenreichen Streckenführung. Die Binnenschifffahrt von Nordenham nach Mehrum (Kohlekraftwerk am Mittellandkanal zwischen Hannover-Braunschweig) liegt z.B. um 2-3DM/t höher als im Falle einer Belieferung aus Hamburg, (…) Das VW-Kraftwerk in Wolfsburg liegt zwar am Mittellandkanal, wird aber ausschließlich per Bahn versorgt.

Nimmt die Bahn der Binnenschifffahrt noch anderweitig Transportvolumen weg?
Bei der Beurteilung des von der Preussag Stahl AG geschätzten Erzaufkommens für einen Binnenwasseranschluss Wilhelmshaven muss berücksichtigt werden, dass der bisherige Erzbezug über Hamburg-Hansaport im Ablaufverkehr trotz des bestehenden vergleichsweise leistungsfähigen Elbe-Seitenkanals fast vollständig mit konzerneigenen Ganzzügen abgewickelt wird – 1996 zu über 99%. Es spricht einiges dafür, dass auch im Falle einer Verlagerung eines Teils des Erzbezuges nach Wilhelmshaven im Hinterlandverkehr weiterhin überwiegend die Bahn eingesetzt werden würde.

Einsatz von Steuermilliarden zur Rettung der Marktwirtschaft?

Weshalb der Bau eines Kanals zu Lasten des Steuerzahlers, wenn die Bahn es volkswirtschaftlich preiswerter machen kann?
Ohne den Zugang zum Binnenwasserstraßennetz würden die Frachtsätze der Bahn so hoch angesetzt, dass ein wesentlicher Teil der Seefrachtdifferenz von der Bahn vereinnahmt würde.
Voraussetzung für den überwiegenden Einsatz der Bahn im Ablaufverkehr sind günstige bzw. wettbewerbsfähige Transportpreise sowie technische Verbesserungen an den Strecken, die jedoch bisher ohne den Druck einer direkten Binnenschiffsalternative nicht durchgesetzt werden konnten. Es wäre aber volkswirtschaftlich nicht sinnvoll und unter den heutigen Gegebenheiten wohl auch kaum vorstellbar, dass eine Kanalverbindung hauptsächlich zu dem Zweck gebaut würde, die Bahn zu attraktiveren Preisangeboten zu zwingen.

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