Zuflussprinzip?
Zahlreiche Wilhelmshavener Hartz IV-Berechtigte leben dauernd unter dem Existenzminimum – das wäre nicht nötig
(noa) Am 29 Oktober gab es in der WZ einen Artikel, der für Verwirrung gesorgt hat. Unter der Überschrift „Wenn das Job-Center nicht zahlt“ ging es um den Wilhelmshavener Hartz IV-Bezieher Volker Ernst Ott, der sich mit dem Job-Center angelegt hat.
Er hat einen kleinen Job gefunden und das Job-Center im September von der bevorstehenden Arbeitsaufnahme informiert, woraufhin ihm sofort die Hartz IV-Leistung für den Monat Oktober gestrichen wurde – „vorläufig“, bis zur Klärung, wie hoch sein Lohn ausfallen würde.
Ott machte sich im Internet und bei der Arbeitsloseninitiative schlau und fand heraus, dass das Job-Center zahlen muss, bis der erste Lohn tatsächlich da ist. „Zuflussprinzip“ heißt das, und es ist auch nur logisch: Man muss ja von irgendetwas leben, bis der erste Lohn kommt, und als Träger der Grundsicherung muss das Job-Center verhindern, dass jemand in Not gerät.
Nach Otts Vorbringen beim Job-Center und einem Anruf des WZ-Redakteurs dort klappte es dann auch. Ott bekam seine Oktober-Leistung ausgezahlt und freute sich. Allerdings nur einen Monat lang: Im November wiederholte das Job-Center dasselbe Spiel und behielt die Hartz IV-Leistung ein, obwohl Ott erstens seinen Oktoberlohn noch nicht hatte und dieser zweitens nur etwas über 100 Euro betrug. Nun wurde er aber richtig sauer: Mangels Guthaben tätigte sein Geldinstitut einige Rückbuchungen, und wer so knapp kalkulieren muss, kann sich die Gebühren hierfür nicht leisten.
Die Verwirrung: Laut Werner Ahrens von der Arbeitsloseninitiative muss das Job-Center mit seiner Aufrechnung und Rückforderung warten, bis der erste Lohn da ist. Wolfgang Burkert, Geschäftsführer des Job-Centers, räumte gegenüber der WZ jedoch lediglich ein, „dass Ott Anspruch auf die volle Grundsicherung im Oktober habe, wenn ihm sein Lohn erst im November zufließe“. Und was ist, wenn ein Zufluss erst Ende eines Monats kommt?
So geht es einer jungen Frau, die aufgrund einer schweren Krankheit berentet worden ist. Sie bekommt ihre erste Rentenzahlung Ende Dezember. Das Job-Center hat ihrer Bedarfsgemeinschaft jedoch das Arbeitslosengeld II schon zum Anfang des Monats gekürzt. Was die fünfköpfige Familie jetzt zur Verfügung hat, reicht auf keinen Fall, um durch den Monat zu kommen.
„Die betreffenden Kunden können in einem solchen Fall ein Darlehen beantragen“, sagte uns eine Mitarbeiterin des Job-Centers. Schön und gut, das hilft für den Augenblick. Aber dann? Wenn der erwartete Zufluss dann kommt, muss das Darlehen zurückgezahlt werden. Sollen die Betroffenen dann sofort wieder ein Darlehen beantragen?
Da wäre es auf jeden Fall sinnvoller, wenn das Job-Center zahlt, bis Lohn oder Rente wirklich zugeflossen ist, und erst dann ausrechnet, wie viel Geld es zurückfordern muss/kann.
In dem genannten WZ-Artikel heißt es, dass Werner Ahrens von weiteren Fällen wie dem von Ott weiß. Auch uns sind Leute bekannt, denen es so ergeht. Zwei entsprechende Geschichten gibt es im folgenden Beitrag „Aufschwung“.
Aufschwung
Ganz Europa schaut auf Deutschland…
(noa) So und ähnlich beschreiben – beschwören – Merkel, Brüderle und Konsorten die gegenwärtige Wirtschaftssituation. Die Medien korrigieren immer wieder und zitieren die Opposition, die Gewerkschaften, die Wohlfahrtsverbände, die darauf hinweisen, dass der wirtschaftliche Aufschwung zu großen Teilen in einem Anstieg der prekären Beschäftigungen besteht.
In Wilhelmshaven – und wahrscheinlich nicht nur in Wilhelmshaven – ist es auch ein Aufschwung für Firmen, die sich die Arbeitskraft nicht nur billig, sondern möglichst umsonst aneignen wollen. Und für das Job-Center, das daran spart.
1. Fall: Herr A. ist Familienvater und Hartz IV-Empfänger. Er fand im August einen Job als Kabelzieher. Vollzeit, zunächst befristet auf ein halbes Jahr. Wow, endlich raus aus Hartz IV.
Es musste sehr schnell gehen mit dem Arbeitsantritt, Freitag war Vorstellungsgespräch, Montag schon der erste Arbeitstag.
Arbeitgeber war eine niederländische Firma, die ihre „Jungs“ über einen privaten Arbeitsvermittler engagierte. Dass beim Vorstellungsgespräch noch nichts über Löhne und Arbeitsbedingungen gesagt wurde, kam der Familie A. zwar seltsam vor, doch „Hauptsache Arbeit“ und „weg vom Arbeitsamt“, und bei so vielen Arbeitsstunden (zehn am Tag mindestens) würde schon genug Geld rüberkommen.
Ab Anfang September wartete Familie A. auf die erste Lohnzahlung. Das Job-Center stellte seine Zahlungen ein, und die Familie hatte bald kein Geld mehr.
Gut sieben Wochen arbeitete Herr A. an sechs Tagen in der Woche. Es war körperliche Schwerstarbeit, und die Maschine, die er am Anfang noch benutzt hatte, war nach einiger Zeit nicht mehr einsetzbar. Sie war defekt, wie es hieß. Allerdings machte auch niemand Anstalten, sie zu reparieren oder zu ersetzen. Gegen Ende September war Herr A. dann so kaputtgearbeitet, dass es nicht mehr ging. Er musste sich arbeitsunfähig schreiben lassen.
Seine AU-Bescheinigung, die er der Krankenkasse schickte, kam zurück. Er sei nicht mehr versichert, erfuhr er. Sowohl seine Frau als auch das jüngere der beiden Kinder waren in den vergangenen Wochen in ärztlicher Behandlung gewesen, und er selber war ja nun wegen des kaputten Rückens auch beim Arzt. Welche Kosten würden da auf die Familie zukommen?
Es bedurfte einiger Telefonate, bis der Arbeitgeber sich bequemte, Herrn A. und die anderen „Jungs“ bei ihren Krankenkassen wieder anzumelden. Und Lohn? Eine Abschlagszahlung auf den Lohn für August kam Ende September; die Restzahlung für August und ein Teil des Lohns für September ließ bis Mitte Oktober auf sich warten. Was wohl kam, waren Lohnabrechnungen für August und September, die eine korrekt, die andere fehlerhaft.
Vom Job-Center kam währenddessen nichts. Jedenfalls kein Regelsatz, kein Geld für die Kosten der Unterkunft. Zweimal war Frau A. persönlich da und bekam Bargeld, nie genug, um die inzwischen angesammelten Schulden zu begleichen. Zum 26. Oktober bekam Herr A. die Kündigung und ist nun wieder arbeitslos, und nun konnte das Job-Center wieder rechnen: 1,17 Euro wurde für November zuerkannt, denn dann würde der Oktoberlohn (für den es mittlerweile auch eine Lohnabrechnung gab), ja auf dem Konto eintreffen.
Der November verging, und es kam kein Lohn. Und Frau A.’s Besuch beim Job-Center Anfang Dezember war vergebens, jedenfalls, was die Auszahlung von Barem anging. Ab Dezember ist die Bedarfsgemeinschaft A. ja wieder im Leistungsbezug und bekommt Geld. Dass der Dezember-Regelsatz als Überziehungskredit schon im November verbraucht wurde, spielte keine Rolle.
2. Fall:Herr N. hat im Sommer auch endlich einen Job gefunden, bei einer Wilhelmshavener Sicherheitsfirma. Offiziell sollte es ein 400 Euro-Job sein, das Geld für die darüber hinausgehende Arbeit sollte „bar Kralle“ gezahlt werden. Der Hinweis von Herrn N. und seinen Kollegen, dass das doch Schwarzarbeit sei, wurde so beantwortet, dass sie ja auch auf die Arbeit verzichten könnten. Und wenn er gut arbeite, so sagte man Herrn N., werde er bald einen Festvertrag bekommen.
Stolz und froh meldete er seinen 400 Euro-Job beim Job-Center an. Prompt wurde ihm die Leistung für den nächsten Monat um 235 Euro gekürzt. (165 Euro darf man von einem 400 Euro-Job behalten.)
Drei Wochen lang arbeitete Herr N. außerhalb, insgesamt so viele Stunden, dass er über 400 Euro hinaus noch einiges an Geld zu beanspruchen gehabt hätte. Der Lohn ließ allerdings auf sich warten. Nachdem man ihm gesagt hatte, momentan sei nichts zu tun, er könne zu Hause bleiben, schien die Firma ihn ganz zu vergessen. Es kostete mehrere Anrufe und persönliche Besuche im Büro der Firma, bis nach Wochen eine kleine Summe überwiesen wurde. Allerdings hatte der Arbeitgeber offenbar schon die Rechnung des Job-Centers gemacht und nur etwa so viel gezahlt, wie die Behörde ihm gelassen hätte.
Herr N. hat die Hoffnung, bei dieser Firma eventuell wieder arbeiten zu können, nach einigen Wochen aufgegeben und einen anderen 400 Euro-Job angenommen. Jetzt rechnet ihm das Job-Center 800 Euro Zuverdienst an, da er ja keine Kündigung von seinem Sicherheitsunternehmen vorweisen kann.
So viel zum Thema Aufschwung. Aber über den hat der Chef der Wilhelmshavener Arbeitsagentur inzwischen auch schon gesagt, dass er in der Region kaum spürbar ist.
Hartz IV + 5 = Schmu
Zwei ALI-Versammlungen haben wir seit der letzten GEGENWIND-Ausgabe besucht, und auf beiden gab es wichtige Informationen zum Zustandekommen der Regelsatzerhöhung bei Hartz IV. Auf Grundlage einer Veranstaltung am 9. Oktober in Oldenburg, auf der Dr. Martens von der Forschungsstelle des Paritätischen die damals gerade aktuelle „Überraschung“ der Sozialministerin erläuterte, und unter Bezugnahme auf einen „Zeit“-Artikel kommentierte Ernst Taux die Schieberei bei der Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar.
Das hatte die Berechnung der Hartz IV-Regelsätze gerügt und dem Gesetzgeber aufgetragen, bis Ende 2010 schlüssig und transparent einen menschenwürdigen Regelsatz auszurechnen. Im Herbst war Frau von der Leyen dann mit treuherzigem Blick vor die Kameras getreten und hatte erklärt, dass fünf Euro mehr herausgekommen seien bei der Rechnung.
Die Forderung nach Transparenz jedenfalls ist nicht erfüllt worden. Aus den Veröffentlichungen des Sozialministeriums geht nicht hervor, wie ermittelt wurde, wer die Bezugsgruppe für die Berechnung des Regelsatzes für die allein lebenden Langzeitarbeitslosen stellt, ob „Aufstocker“ eingerechnet wurden oder nicht.
Und es wurde wissenschaftlich unsauber gearbeitet. „Tabak und Alkohol wurden nicht in den Regelsatz aufgenommen“, sagten von der Leyen und Co. wiederholt. Man hat also die Verbrauchsgewohnheiten der unteren 20 % der Bevölkerung untersucht, ist auf eine bestimmte Summe gekommen und hat dann die Summe, die diese Menschen für das Rauchen und Trinken ausgeben, abgezogen. Da aber viele dieser Menschen nicht rauchen und keinen Alkohol trinken, sondern die entsprechenden Beträge für Bücher, Rosinenbrötchen oder Kinokarten ausgeben, entsteht dadurch eine Verfälschung der Stichprobe.
Auch bei der Ausgabengruppe „Mobilität“ wurde geschummelt. Zwar dürfen Hartz IV-Berechtigte ein Auto haben, doch jetzt nur noch eines, das ohne Kraftstoff fährt. Der Anteil, den die Vergleichsgruppe der armen Berufstätigen für Benzin ausgibt, wurde ebenfalls weggerechnet.
Und noch skurriler wird es beim Thema Gaststätten: Die ca. 22 Euro monatlich, die ein Geringverdiener in der Gastronomie ausgibt, wurden auf den „reinen Warenwert“ von 7,27 Euro reduziert. Arbeitslose sollen ihr Gemüse im Restaurant auf einem mitgebrachten Ofen also selber garen?
Und nach all den rechnerischen Verrenkungen ist man auf einen Regelsatz von 379 Euro gekommen. Viel zuviel! Also hat man noch einmal den Rotstift angesetzt und davon 15 Euro abgezogen. Und wie ging das? „Wir beziehen uns nur auf die unteren 15 %.“ Man hat also aus der Vergleichsgruppe von 65.000 armen Haushalten ein Viertel (das oberste) weggelassen.
Dass der neue Regelsatz „auf methodisch zweifelhaftem Weg zustande gekommen“ ist, ist eine sehr vornehme Umschreibung für Beschiss! (noa)
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