Putenmast
Jul 162014
 

Alles Gute für die Pute?

Transparenzoffensive der Uni Vechta gibt Einblick in „moderne Geflügelwirtschaft“

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So sieht Putenfleisch aus, bevor es sauber abgepackt und spottbillig im Supermarktregal endet. Foto: Imke Zwoch

(iz) Die meisten Menschen kennen das Innere von Geflügelställen der Intensivtierhaltung höchstens aus dem Fernsehen. Zutritt haben nur Angestellte oder, zu nächtlicher Stunde und ohne Genehmigung, Aktivisten von PETA und anderen Tierschutzbewegungen. Was sie dort dokumentieren, ist nicht gerade appetitanregend. Doch schnell sind die schrecklichen Bilder vergessen und Geflügelfleisch ist so billig, dass der Markt boomt. Trotzdem sind kritische Medienberichte der Geflügelwirtschaft ein Dorn im Auge. Ein Projekt der Uni Vechta eröffnet die Möglichkeit, sich persönlich ein Bild zu verschaffen. Landwirte aus ganz Niedersachsen beteiligen sich mit einem Tag des offenen Stalles. Wir haben einen Betrieb im Wangerland besucht.

Enno Ortgies ist ein freundlicher Mensch. Gern würde man mit ihm und seiner Familie am Küchentisch bei einer Tasse Tee über den bäuerlichen Familienalltag plaudern, über betriebswirtschaftliche Erwägungen, Erzeugerpreise, Vertriebsketten und EU-Richtlinien. Doch dafür ist heute keine Zeit. Im Viertelstundentakt führt Ortgies je ein Dutzend Besucher durch einen seiner drei Putenmastställe im Friedrich-Augusten-Groden. Mit stolzer Geste weist er auf die 5000 Putenhähne, die überrascht, aber nicht ängstlich die ungewohnte Besucherschar zur Kenntnis nehmen.

Riecht es unangenehm? Ist es duster? Diese und weitere Fragen stehen schon in dem Fragebogen, den jede/r vorm Betreten des Stalles ausgefüllt hat. Mitarbeiter der Uni Vechta möchten wissen, mit welchen Erwartungshaltungen man den Stall betritt. Gemeinsam mit Familienmitgliedern und Mitarbeitern des Betriebes bereiten sie die Besucher auf das „Putenmast live“-Erlebnis vor. Erst den Fragebogen ausfüllen. Dann unterschreiben, dass man in den letzten drei Tagen keinen anderen Geflügelstall betreten hat. Einweg-Schutzkleidung überziehen: Overall, Füßlinge, Plastikmütze. Vom Eingangszelt geht es gruppenweise Richtung Stall. Zweites Paar Plastikfüßlinge, Hände desinfizieren. Über eine Fußmatte mit Desinfektionsbad geht es endlich in den Stall.

Normalerweise ist ein Geflügelstall dieser Art ein Hochsicherheitstrakt. Schleppt jemand einen Krankheitskeim ein, ist das der Super-GAU für den Landwirt. Intensivtierhaltung als „Monokultur“ ist ein bisschen wie Poker. 5000 Tiere werden zeitgleich als Eintagsküken eingestallt und nach wenigen Monaten kollektiv wieder ausgestallt, auf Deutsch: geschlachtet. Wenn alles gut geht, bringt das gute Erträge. Wenn etwas schief geht, ein ganzer Bestand krankheitshalber notgeschlachtet werden muss, rächt es sich, nicht mehrere wirtschaftliche Standbeine zu haben, die aber mehr Arbeit machen. Die „Transparenzoffensive“ birgt also ein gewisses Risiko. Vorsichtshalber hat die Uni Vechta für alle teilnehmenden Betriebe eine extra Versicherung abgeschlossen.

Im Stall riecht es nach Vogel, aber nicht aufdringlich wie Gülle. Die Tiere stehen auf Stroh, die Luft zirkuliert zwischen den Öffnungen an den Seitenwänden und am Dachgiebel, durch die gedämpftes Tageslicht fällt. Regelbare Jalousien schützen vor Zugluft. Rund um die Uhr stehen Futter und Wasser zur Verfügung. Es gibt Weizen aus eigenem Anbau, dazu zugekaufte Pellets aus Soja und weiteren Komponenten. Am Eingang steht auch ein Eimer Kies. In der kurzen Zeit kann Ortgies nicht alle Fragen beantworten, aber vermutlich kriegen die Puten so die Steinchen geliefert, die alle Hühnervögel zur Verdauung brauchen und picken.

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Bei näherer Betrachtung sind die Puten sehr hübsche Tiere. Foto: Imke Zwoch

Das Interesse ist groß. Schnell wird ein zweiter Parkplatz eröffnet. Verschiedene Medienvertreter sind vor Ort, fotografieren ist allen Besuchern erlaubt. Auf den ersten Blick sind Puten ziemlich häßlich, Kopf und Hals nackt, dafür mit verschiedensten unförmigen Auswüchsen. Je länger man hinguckt, umso mehr gewinnen sie an Schönheit und Persönlichkeit. Stattliche Vögel, die meisten, mit jetzt etwa 4 Monaten, voll in der Pubertät. Die federlosen Körperpartien sind rosa und lila gefärbt. Alle paar Minuten fängt einer an zu „kollern“, das unverwechselbare Gurren der Hähne zur Paarungszeit, und dann geht es wie eine Welle durch den ganzen Stall, ein vielstimmiger Chor mit erhobenen Köpfen und gespreizten Federn. Vergebliche Liebesmüh, denn Hähne und Hennen werden getrennt aufgezogen. 5000 Hähne in diesem Stall, 5000 nebenan und 5000 Hennen im Stall auf der anderen Straßenseite.

Ortgies kauft sie als Eintagsküken von einer Brüterei bei Garrel. Er ist nicht an diesen Lieferanten gebunden, betont er, aber bislang sei die Qualität der Tiere gut. Diese Entscheidungsfreiheit ist nicht selbstverständlich, denn oft genug sind solche „Veredelungsbetriebe“ nur ein Rädchen im Getriebe einer Fleischindustrie, die mit Knebelverträgen vom Stallbau über die Lieferung der Jungtiere und des Futters bis zur Vermarktung über Großabnehmer (Discounter) Preise und Erlöse diktiert.

Die ersten Tage werden die wertvollen Küken in gewärmten Volieren gehudert und eingewöhnt, bis sie frei im Stall herumlaufen und soweit heranwachsen, dass sie sich zwar bewegen können, aber am Ende sehr eng aneinander leben. Das fördert natürlich das ohnehin angeborene Agressionsverhalten („Hackordnung“). Um Verletzungen (auch des Personals) vorzubeugen, wird die Schnabelspitze nach dem Schlüpfen mit Infrarot bestrahlt und fällt nach einigen Tagen ab. Das sieht zwar nicht so brutal verstümmelt aus wie das Kupieren mit der Schere oder einem glühenden Draht. Aber die Schnabelspitze ist bei Vögeln auch ein wichtiges Sinnes- und Tastorgan, das ihnen so genommen wird. Ortgies ist gegen das vieldiskutierte Verbot des Schnabelkupierens (geplant: ab 2018), nach seiner Ansicht dient es (unter diesen Haltungsbedingungen) dem Tierschutz.

In einem abgetrennten Bereich stehen oder liegen einige verletzte Tiere. Was ihr Leben auch nicht verlängert: Nach 19-22 Wochen geht es ab in den Schlachthof, die Hennen trifft es schon 4 Wochen eher. Damit praktiziert Ortgies die so genannte „Langmast“. Speziell gezüchtete Hybriden nehmen so schnell zu, dass sie schon nach 9-12 Wochen abgepackt in der Kühltheke der Discounter landen. Von Natur aus kann ein Truthuhn 10 bis 12 Jahre alt werden.

Schon kommt die nächste Besuchergruppe und viele Fragen bleiben offen. Werden hier die Ställe auch Tag und Nacht beleuchtet, damit die lichtaktiven Tiere durchgehend fressen und schneller zunehmen? Bekommen sie vorbeugend pauschal Medikamente verabreicht? Wie viele „Ausfälle“ gibt es während der Aufzucht und auf dem Weg zum Schlachthof? Hier und heute liegen keine halbtoten, halbnackten, verstümmelten Vögel oder halbverweste Leichen herum. Wir unterstellen Ortgies nicht, dass das ansonsten so wäre, ohne Tag des offenen Stalles. Anhand einer Momentaufnahme lässt sich das nicht beurteilen. In keinem der Betriebe (Puten- und Hähnchenmast sowie Legehennenhaltung), die in den kommenden Monaten gemeinsam mit der Uni Vechta ihre Ställe zugänglich machen, werden Besucher Zustände vorfinden, wie sie PETA bei unangemeldeten nächtlichen Stallbesuchen dokumentiert.

Die Tiere haben alles, was man zum Überleben braucht:  Licht (hoffentlich nur tagsüber), Luft, Futter und Wasser. Ob das alles ist für ein „artgerechtes“ Leben, steht auf einem anderen Blatt.

Puten (auch Truthühner genannt) sind neugierige und intelligente Vögel. In freier Natur suchen sie sich ihre Heimat in Steppen, an Waldrändern und in lichten Wäldern, wo ihnen ein vielfältiges Nahrungsangebot zur Verfügung steht und wo sie sich in dichtem Unterholz verstecken, auf dem Boden ihre Nester bauen und auf Bäumen ihre Schlafplätze suchen. Puten in Freiheit leben außerdem in komplexen Sozialstrukturen zusammen: In den kälteren Jahreszeiten formieren sie nach Geschlechtern getrennte Verbände von mehreren hundert Tieren mit fester Rangordnung. In der Brutzeit leben weibliche Puten dagegen abgeschieden in Nistgruppen von 2 bis 5 Hennen. Nach dem Schlüpfen der Jungen schließen sich Hennen und Küken wiederum zu großen Brutherden zusammen. Sieben Monate lang werden die Jungtiere von ihren Müttern behutsam betreut und beschützt. Diese soziale Vielfalt erleben Puten in der Massentierhaltung nicht. Sie haben dort weder die Möglichkeit, kleine Gruppen zu bilden, noch die Gelegenheit, ihre Jungen aufzuziehen.1

1 Quelle: http://albert-schweitzer-stiftung.de/massentierhaltung/puten. Dort gibt es auch weitere Infos zu den Auswirkungen der Putenmast im Vergleich zu den natürlichen Lebensbedingungen und Bedürfnissen von Truthühnern. 

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