Abfallprobleme
Juni 101991
 

Paradox

Perspektiv-Gespräch mit Umweltdezernent Jens Graul über Wilhelmshavens Abfallwirtschaft

(hk/jm) Durch vielerlei Maßnahmen will die Stadt jetzt die Mülllawine in den Griff kriegen. Die Zeit drängt, denn wenn nichts geschieht, ist die Deponie-Nord in acht Jahren voll. Nicht abzuschätzen ist, wie sich das Kuckucksei entwickelt, dass Umweltminister Töpfer den Gemeinden ins Nest gelegt hat….

Zeichnung: Erwin Fiege

Zeichnung: Erwin Fiege

Gegenwind: Herr Graul, die Deponie Nord – ein Riesen-Giftreaktor, der kaum noch auszuschalten ist! Brauchen wir ’ne Art Tschernobyl-Sarkophag, um uns vor den gifthaltigen Gasen und Sickerwässern zu schützen?
Graul: Die Deponie entspricht mit Deponieklasse III dem Stand der Technik von 1980. Keine andere Deponie in der Umgebung hat diese Klassifizierung. Also ich würde die Deponie nicht als Riesen-Giftreaktor bezeichnen. Was wir tun müssen ist, die Deponie an den Stand der Technik aus heutiger Kenntnis anzupassen und das werden wir tun.
Wir sind dabei, ein Konzept ‚Umweltfreundliche Deponierung‘ zu erarbeiten und das wird alles beinhalten, was mit Nachsortierung, Vorrotte und umweltverträglicher Einlagerung von Abfällen zu tun hat.

Gegenwind: Was kommt alles in Frage?
Graul: Ich könnte mir vorstellen, dass zukünftig sämtlicher Müll, der die Deponie erreicht, über eine Sortierschiene geht, so daß die direkte Einlagerung in absehbarer Zeit nicht mehr praktiziert wird.
Das schließt ein, daß die Wertstoffe aussortiert werden und die Restorganik die dann in der Biosammlung noch drin ist, einem Rotteverfahren unterzogen wird. Wir lassen das zur Zeit von einem Experten ausarbeiten mit dem Ziel, im Herbst eine Planungsgrundlage zu haben, mit der wir in ein Genehmigungsverfahren gehen können.

Gegenwind: Wann ist die Deponie endgültig voll?
Graul: Ende der neunziger Jahre, wenn wir so weitermachen wie bisher. Aber wenn das vom Rat beschlossene Abfallwirtschaftskonzept umgesetzt wird und bislang liegen wir im Zeitplan, gewinnen wir zehn Jahre zusätzlich. Wenn wir die Idee ‚Umweltfreundliche Deponierung‘ realisieren, was ja auch eine Verminderung des Restmülls durch die Vorbehandlung einschließt, dann gewinnen wir weitere fünf Jahre.

Gegenwind: Wie weit sind Sie mit den anderen beschlossenen Sortier- und Verwertungsprojekten?
Graul: Die Bauschuttdeponie ist planfestgestellt. Sobald der Bescheid rechtskräftig wird, können wir sagen, halbes Jahr später ist sie in Betrieb.
Die Klärschlammaufbereitung ist in Bau. Wir rechnen damit, daß die ’92 in Betrieb geht – das ist das Faulgasprojekt – da sind wir ja mittendrin.
Die Gewerbemüllsortierung und die Abfallkompostierung sind in Planung und stehen voraussichtlich 1993 nach Abschluß des Genehmigungsverfahrens zur Verfügung.

Gegenwind: Welche Aufgaben soll der beim Bauhof Maadesiel geplante Recyclinghof übernehmen?
Graul: Was wir brauchen, ist eine zentral gelegene Annahmestelle für sogenannte Nischenwertstoffe, die nie in genügender Menge anfallen, um sie flächendeckend einzusammeln. Dazu gehören auch spezielle Kunststoffe wie Styropor, bestimmte Metalle oder eben Dinge, die an und für sich einen Wert haben…

Gegenwind: Wann wird die Sammelstelle eröffnet?
Graul: Ich hoffe, daß man schon im nächsten Jahr was davon sehen kann. Wir wollen den Recyclinghof aber nicht als Experimentierstudio der Abfallwirtschaft bestreiten sondern als seriösen Teil unseres Abfallwirtschaftskonzeptes; d.h., mit den hoheitlichen Aufgaben: Wertstoffeinsammlung, Schad- und Wertstoffannahme, Versuchskompostierung. Natürlich auch Umwelt- und Abfallinformation. Aber der Kern dieses Recyclinghofes sollen die Abfallströme sein, die in unserem Auftrage erfaßt werden.

Gegenwind: Was geschieht mit dem Sperrmüll?
Graul: Dazu gehört auch der Sperrmüll, d.h. die Mitarbeiter sollen den dann auf Wertstoffe, z.B. wieder verwertbare Möbel hin untersuchen, sortieren und verwerten helfen.

Gegenwind: Für diese Aufgabenstellung brauchen Sie ja auch’n ganz neues Abfallwirtschaftsmanagement!
Graul: Was das Management insgesamt angeht, ist der stellvertretende Amtsleiter im Stadtreinigungsamt neu besetzt worden. Die Amtsleiterstelle ist zur Zeit ausgeschrieben und wir werden – im Herbst denke ich mal – da einen neuen Mann haben. Und der wird sicherlich von vornherein dem Abfallwirtschaftskonzept verpflichtet sein. Das ist eine Vorgabe, die er umzusetzen hat und in die er seine Ideen und seine Kreativität einbringen muß!

Gegenwind: Was wird für die Abfallvermeidung getan?
Graul: Zunächst mal verstärken wir unsere Abfallberatung. Wir haben ja einen Umwelt- und Abfallberater. Wir haben noch einen Mitarbeiter eingestellt, der auch in die Betriebe ‚reingehen wird. Und wir werden dieses Jahr einen dritten für den Bereich Kompostierung, Grünabfälle einstellen. Wir brauchen ihn auch für die flächendeckende Ausdehnung der Biotonne. Die Erfahrung zeigt, daß da sehr viel Feldarbeit vorher geleistet werden muß, wenn das funktionieren soll.

Gegenwind: Wann wird eine vermeidungsorientierte Gebührenordnung eingeführt?
Graul: Wir werden das in Zusammenhang mit Flächeneinführung der Getrenntsammlung angehen. Wir werden unser Tonnenangebot dann auf kleinere Gefäßgrößen abstufen müssen, weil das ein Akt von Gebühren- und Leistungsgerechtigkeit ist.
Gegenwind: Wann wird es soweit sein?
Graul: Wir werden ab Ende ’91/ Anfang ’92 mit der flächendeckenden Getrenntsammlung beginnen. Wir haben ja gerade Anfang Mai im gesamten Jadeviertelgebiet jeden Haushalt an die Getrenntsammlung angeschlossen, um mal zu sehen: Wie gehen die Bürger damit um, wenn sie die verschiedenen Tonnen sozusagen ungebeten vor die Tür gestellt bekommen. Das ist ’ne wichtige Erfahrung vor der stadtweiten Ausdehnung.

Gegenwind: Es schält sich langsam heraus, daß die ‚Gesellschaft für Müll- und Abfallbeseitigung‘ (GMA) in der Region Wilhelmshaven/Friesland zum Nutznießer der neuen Verpackungs-Verordnung wird, die Umweltminister Töpfer mit der Industrie ausgehandelt hat! Ist das nicht kontraproduktiv zu Ihren Vorbereitungen bzw. zu den bereits eingeleiteten Maßnahmen?
Graul: Die Kommunen haben die Verpackungs-VO nicht gewollt, jedenfalls nicht als Duales System. Gewollt war eine wirksame Verminderung des Verpackungsanfalls, nämlich die Rücknahme von Verpackungen durch den Einzelhandel. Das ist ja nun bedauerlicherweise erst für den Fall angedroht, daß bis 1995 kein hocheffizientes Sammelsystem organisiert worden ist.

Gegenwind: Der Begriff ‚Duales System ‚ ist relativ neu! Was steckt dahinter?
Graul: ‚Dual‘, weil eben zusätzlich zur öffentlichen Entsorgung ein privates Sammelsystem tritt. Für dieses System ist eine bundesweite GmbH, die DSD (Duales System Deutschland) und eine Verwertungsgesellschaft, die ‚Inter-SeRo‘ gegründet worden. Sie sind Träger der privaten Systeme und machen Verträge mit den einzelnen Entsorgungsbetrieben.

Gegenwind: Wissen Sie schon, wer Gesellschafter des Dualen Systems in unserer Region wird? Hat die Stadt Interesse, Teilhaber zu werden?
Graul: Es wird keine neue Gesellschaft geben! Die GMA wird sich bemühen, von der DSD den Auftrag für die Region zu bekommen und sie wird sich dazu mit den Kommunen abstimmen müssen.

Gegenwind: Darf die GMA nur die Verpackung einsammeln oder soll sie das Getrenntsammelsystem der Stadt übernehmen?
Graul: Das Duale System, so heißt es in der Verpackungs-VO, soll verbrauchernah sein. Das heißt: Im Extremfall würde die DSD, bzw. das von ihr beauftragte Unternehmen GMA, im Jadeviertel die Grüne Tonne betreiben.
Gegenwind: Außer Verpackung also auch noch andere Stoffe?
Graul: Das ist eine der ungeklärten Fragen! Töpfer bereitet eine Vereinbarung mit den Zeitungsherstellern vor, so daß er dann, wenn er die Verpackungs- und die Zeitschriftenabfälle hat, schätzungsweise 95% des Inhalts der heutigen Wertstofftonnen erreicht. Doch entscheidend sind die Erfassungsquoten, die in der VO vorgegeben sind.

Gegenwind: Die Stadt ist demnach vorerst ihre Sorgen los?
Graul: Die Stadt ist natürlich betroffen. Wenn das System arbeitet, werden ja die Müllmengen reduziert. – Wenn! Aber das wird man erst 1995 abschätzen können. Dann wird es erst spannend, weil dann nach Expertenmeinung hohe Verwertungsquoten vorgegeben sind. Umgekehrt hat der Bundesumweltminister durch die VO diese Verpackungsabfälle aus der kommunalen Zuständigkeit herausdefiniert. Und deshalb sind wir gehindert, in Zukunft unsere eigene Wertstofferfassung auszudehnen; d.h., wir müssen sehen, was es uns bringt – das Duale System – .

Gegenwind: Taugt das Duale System zur Drosselung der Verpackungsflut?
Graul: Generell gilt natürlich, dass die Verpackungs-VO vermeidungsfeindlich ist, weil sie das Einwegbehältnis stabilisiert. Deshalb wird die paradoxe Situation entstehen, daß die Stadt sich möglicherweise mit einem anständigen Dualen System anfreunden wird, wenn die Bedingungen stimmen.
Aber in der Abfallberatung und der Öffentlichkeitsarbeit wird sie sich natürlich weiterhin pro Mehrweg aussprechen. – Muß sie auch, weil Mehrweg nachgewiesenermaßen die beste Alternative ist. Das ist paradox aber damit müssen wir leben!

Gegenwind: Zum Schluß noch eine aktuelle Frage: Wann wird die Schulmilch auf Mehrwegflaschen umgestellt?
Graul: Also, da sind noch ein paar Dinge zu klären: Zuschuß, Reinigung, Rückholung. Wir sitzen jedenfalls mit den Milchwerken und dem Elternrat an einem Tisch. Die Gemeinde Schortens ist auch mit dabei, macht ein bißchen Druck mit und ich bin im Augenblick sehr optimistisch, das wir das hinkriegen. Ich leg mich ungern fest aber ich würde mal sagen: Jahresende erfolgt die Einführung von Flaschen!

 

Kommentar:

Wertvolle Zeit zum Aufbau einer effizienten Abfallwirtschaft haben Rat und Verwaltung verstreichen lassen. Die Kette der Versäumnisse und Fehlentscheidungen ist lang. Sie beginnt spätestens beim Genehmigungsverfahren für die Deponie-Nord, bei dem die Warnung des Niedersächsischen Landesamtes für Bodenforschung, daß der Grund des vorgesehenen Deponiestandortes wasserdurchlässig sei, in den Wind geschlagen wurde. Die erteilte Genehmigung, dort 47 Jahre lang Müll ablagern zu dürfen, nährte in der Folge die Illusion, das Müllproblem langfristig gelöst zu haben.
Einfältig konzentrierte man sich auf die Kostenbegrenzung bei der Getrenntsammlung und beim Mülltransport. Das Gebot des landschaftsschonenden, sparsamen Umgangs mit dem Deponieraum geriet dabei unter die Räder der Müllabfuhr.
So war es nur natürlich, daß die Haussammlung von Papier eingestellt wurde und die Einführung der geforderten Grünen Tonne genauso wenig eine Chance hatte, wie der von mehr als 6.000 Unterzeichnern getragene Bürgerantrag für die Beibehaltung der 14-tägigen Müllabfuhr in Voslapp und umzu. Beschlossen wurde eine wöchentliche Entleerung der Mülltonnen mit bewußter Inkaufnahme steigender Abfallmengen.
Nicht mal das im Jahre 1986 in Kraft getretene Abfallgesetz (AbfG) mit der Verpflichtung zur Abfallverwertung*) konnte die Stadt aus dem gewohnten Trott bringen. Man gab sich weiterhin mit der Aufstellung von Glas- und Papiercontainern zufrieden, mit denen man noch nicht mal 3% des Gesamtmülls erfaßte.
Erst 1988, als die Bezirksregierung, getrieben von den Müllververbrennungsplänen der damaligen CDU/FDP-Landesregierung, den Abfallwirtschaftsplan der Stadt anforderte, ließ man eine ‚Vorstudie für ein Abfallwirtschaftskonzept‘ erstellen. Sie ist heute – um Grüne Tonne, Recyclinghof und ‚Umweltfreundliche Deponierung‘ – erweitert, die Planungsgrundlage der Stadt. Es dauert aber noch Jahre, bis sie umgesetzt ist.
Und dann kommt die Verpackungs-VO dazwischen und stellt einiges davon wieder in Frage!
Nur eines ist sicher: Umweltminister Klaus Töpfer hat den Kreisen eine Aufgabe der gesetzlich verbrieften kommunalen Selbstverwaltung entzogen. Und die kriegen sie auch nicht wieder; ob das ‚Duale System‘ nun funktioniert oder nicht.
Mit diesem rechtlich fragwürdigen Akt hat sich Töpfer um die Sicherung des Wachstums der Verpackungsindustrie verdient gemacht.
Endlich können auch die Anlagenbauer von Müllverbrennungsanlagen durchatmen! Denn je weniger das Duale System funktioniert, desto mehr Aufträge winken und schaffen neue Pfründe für Industrie und Finanzwelt.

Jochen Martin

*) (…) Abfälle sind so einzusammeln zu befördern, zu behandeln und zu lagern, daß die Möglichkeiten zur Abfallverwertung genutzt werden können. Abfallgesetz vom 27.08.86, § 3 (2)

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