35 Stunden
(RaWe) Was die derzeit anlaufenden Tarifverhandlungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern so sehr von vorangegangenen unterscheidet, das ist die zweifellos hochinteressante Auseinandersetzung um die Einführung der 35-Stunden-Arbeitswoche bei vollem Lohnausgleich.
Die Positionen sind klar. Für die Gewerkschaften bedeuten Arbeitszeitverkürzungen einen möglichen und sehr effektiven Schritt zur Sicherung vorhandener und Schaffung neuer Arbeitsplätze. Die Arbeitgeber hingegen befürchten Kostensteigerungen und Arbeitsplatzverluste. Sie lehnen pauschal und kompromißlos die Gewerkschaftsforderung ab und favorisieren die Forderung ihres Arbeitsministers Norbert Blüm nach einer sogenannten „Vorruhestandslösung“, welche besagt, daß Arbeitnehmern die Möglichkeit gegeben wird, bereits mit 59 Jahren bei reduzierten Bezügen in Rente zu gehen.
Sicher, eine Möglichkeit zur Bekämpfung der hohen Arbeitslosigkeit ist das auch. Aber nur, wenn die Unternehmer gleichzeitig für jeden „Frührentner‘ auch einen Arbeitslosen einstellen. Das allerdings kann durch vielerlei Tricks umgangen werden. Somit würde diese Regelung nur bedeuten, daß Unternehmer ältere Arbeitnehmer bequem auf Kosten der Rentenversicherung und somit auch des Steuerzahlers abschieben können.
Im übrigen bebten in Deutschland die gleichen Wellen der Unternehmerentrüstung gegen Arbeitszeitverkürzung bereits bei Forderungen zur Einführung der 50–, 45- oder 40-Stunden-Woche. Auch damals hieß es wie heute, daß der Ruin der blühenden Industrie oder ein tödlicher Schlag gegen die Wettbewerbsfähigkeit zu befürchten sei. Genau das Gegenteil trat an.
Dazu das unabhängige Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung 1963 in einem Gutachten im Auftrag des damaligen Bundeskanzlers Ludwig Erhard: „Die Arbeitszeitverkürzung in der Bundesrepublik konnte alles in allem an keinem günstigeren Zeitpunkt beginnen, als sie einsetzte. Ihre Wirkungen waren samt und sonders antizyklisch, sie stützten Beschäftigungszahlen, Masseneinkommen und Investitionsneigung zu einer Zeit, als überall in Europa und in den USA Produktions- und Investitionsrückschläge einsetzten und auf die Bundesrepublik überzugreifen drohten.“
Und heute? Die Arbeitslosigkeit von 2,5 Mill. Menschen kostet jährlich 70 Mrd. DM. Eine umfassende Arbeitszeitverkürzung kann die Kosten aufgrund der Beschäftigungs- und Humanisierungswirkung senken und somit auch die Beiträge zur Arbeitslosen-, Renten- und Krankenversicherung, was sich dann auch betriebswirtschaftlich und entlastend auf die Arbeitnehmereinkommen auswirkt. Die Arbeitgeber unterstellen, daß eine Verkürzung um fünf Arbeitsstunden mehr als 12,5 Prozent der Lohn- und Gehaltssumme kosten. Die Erfahrungen haben aber gezeigt, daß nur rund 50 Prozent der Arbeitszeitverkürzung beschäftigungswirksam sind. Der Rest wird durch Produktionssteigerungen ausgeglichen. Somit kosten 5 Stunden Arbeitszeitverkürzung nicht 12,5 Prozent, sondern nur etwa die Hälfte.
Die Unternehmer werden nicht zusätzlich belastet. Es wird von den Gewerkschaften nicht mehr gefordert als sonst. Lediglich die Art der Forderung ist anders. Aber es soll wie bisher ein Ausgleich der Preissteigerungsrate, des Produktivitätszuwachses und ein Umverteilungsbeitrag erreicht werden.
Bei „normalen“ Lohn,- und Gehaltsverhandlungen werden in entsprechendem Umfang Verbesserungen der Einkommen gefordert. Geht es wie heute um Arbeitszeitverkürzungen, dann sollen mit Ausgleich der Preissteigerungsrate z.B. die Reallöhne gesichert werden. Und die Forderung nach Sicherung der Arbeitsplätze durch Verminderung der Arbeitszeit wird mit dem Produktivitätszuwachs und dem Umverteilungsbeitrag begründet.
Eine volle Verwirklichung der 35-Stunden-Woche könnte mit der durchschnittlichen „normalen“ Produktivitätssteigerung von zwei Jahren „bezahlt werden“. Das wirkt sich dann zu Lasten sonst höherer Lohn -und Gehaltssteigerungen aus.
Es müssen auch nicht erst neue Arbeitsplätze eingerichtet und bezahlt werden, weil heute die Produktionskapazitäten nur zu 70-80 Prozent ausgelastet sind. Die Arbeitsplätze sind also vorhanden und müßten nur besetzt werden.
Die Arbeitszeitverkürzung sichert Arbeitsplätze. Das bestreitet außer den Arbeitgebern praktisch niemand. Es ist nur umstritten, wie viele Arbeitsplätze es sind. Infolge der Herabsetzung der Arbeitszeit zwischen 1973 u.1979 gab es 1979 1 Million Beschäftigte mehr und 650 000 Arbeitslose weniger als ohne die Arbeitszeitverkürzung, wie das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit berechnete.
Die Arbeitgeber werden durch ihre eigene Praxis widerlegt: Auch Kurzarbeit, Entlassungen und die 59er Regelung sind nichts anderes als Arbeitszeitverkürzungen. Nur diese gehen zu Lasten der Arbeitnehmer und der Allgemeinheit.
Die Einführung der 35-Stunden-Woche bedeutet also eine Verringerung des Arbeitsvolumens um 12,5 Prozent und, zieht man etwa 50 Prozent davon als Produktivitätssteigerung ab, eine Beschäftigungswirkung von 6,25 %. Das bedeutet, daß durch die 35- Stunden-Woche 1984 mehr als 1.500.000 Arbeitsplätze gesichert und geschaffen würden. Ferner ist der volle Lohnausgleich wichtig, damit die Ungerechtigkeiten in der Einkommensverteilung nicht noch verschärft oder gefördert werden, damit die Massenkaufkraft nicht sinkt und die Waren auch abgenommen werden, die durch neue Arbeitsplätze geschaffen werden.
Dazu noch einmal das unabhängige Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung, das bereits vor zwanzig Jahren empfahl: „Es sollte dafür Sorge getragen werden, daß Arbeitszeitverkürzungen in der Hochkonjunktur zurückgestellt und im Zeitpunkt konjunktureller Flauten- insbesondere falls die Vollbeschäftigung bedroht ist – bevorzugt durchgeführt werden, wobei der volle Lohnausgleich garantiert sein muß, um die Deflationstendenzen nicht zu verstärken.“ (die Kaufkraft zu erhalten.)
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