Gegenwind-Gespräch: Günter Kiesewetter
Sep 131993
 

Armutsfalle

Durch Arbeitslosigkeit ins soziale Abseits

(hk) Nach Bekanntwerden des Sparpaketes ’94 haben sich aus den Regionen Wilhelmshaven und Friesland spontan arbeitslose Bürgerinnen und Bürger zu einer Arbeitsloseninitiative zusammengefunden, um gegen das von der Bundesregierung geschnürte Sparpaket zu protestieren. Am 9.9.93 fuhren 150 Mitglieder und UnterstützerInnen der Initiative nach Bonn und übergaben ihr Unterschriftenpaket dem Parlamentarischen Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Dr. Bernhard Worms, zur Weiterleitung an Minister Blüm. Der GEGENWIND sprach mit Günter Kiesewetter, einem der Motoren der Arbeitsloseninitiative.

Gegenwind: Herr Kiesewetter, Sie haben fast 40 Jahre durchgehend gearbeitet und sind jetzt arbeitslos. Wie stellt sich Sie ihre jetzige Situation dar?
Kiesewetter: Ich war 37 Jahre bei Olympia – jetzt bin ich „nicht mehr vermittelbar“. Die Ablehnungsgründe auf Bewerbungen sind immer gleich: „Sie sind zwar hochqualifiziert – aber zu alt.“ Und dann geht’s in die Armutsfalle – Arbeitslosengeld, 2 Jahre Arbeitslosenhilfe und dann Sozialhilfe. Was Sozialhilfe heißt, hat mir mein Rechtsanwalt gerade verdeutlicht: Wenn ich ein Haus habe, muß ich es beleihen, mein Auto muß ich gegebenenfalls abschaffen, meine Ersparnisse muß ich offenlegen – erst wenn ich wirklich nichts mehr habe, bekomme ich Sozialhilfe. So komme ich dann innerhalb weniger Jahre von einem Nettoeinkommen von sagen wir 4.000 DM auf einige hundert Mark Sozialhilfe.
Meine in fast 40 Jahren Arbeit aufgebaute Existenz wird vernichtet.

Gegenwind: Wir bezahlen doch Monat für Monat unsere Arbeitslosenversicherungsbeiträge, damit wir nicht aus dem „sozialen Netz“ fallen. Wird dieses Netz immer grobmaschiger?
Kiesewetter: Das berühmte soziale Netz wird in der Tat immer grobmaschiger. Ich nenne das, was mit uns Arbeitslosen geschieht, Versicherungsbetrug. Wäre ich privat versichert, würde ich ohne Probleme mein Geld bekommen. Nun verwaltet der Bund diese Kasse, und er gewährt mir nur für kurze Zeit die mir zustehenden Leistungen. Der Bund entnimmt der Versicherungskasse Gelder und verwendet sie zweckentfremdet um z.B. andere Löcher zu stopfen. Das sind allein in diesem Jahr 40 Milliarden Mark!
Als Arbeitsloser ist man ja doppelt bestraft. Zum einen bekommen wir sowieso nur 68 bzw. 63% unseres Lohnes, Sonderzahlungen wie Weihnachts- und Urlaubsgeld gibt es auch nicht. Und dann werden wir nochmals geschröpft, indem man die Versicherungsleistungen um 5% reduzieren und die Arbeitslosenhilfe auf 2 Jahre beschränken will.

Gegenwind: Sie arbeiten in der Arbeitsloseninitiative Wilhelmshaven/Friesland mit. Können Sie uns kurz schildern, wie es zu dieser Initiative kam, wie sie entstand?
iwersenKiesewetter: Als der „Solidarpakt“ verabschiedet wurde, hieß es noch „Keine Kürzungen im sozialen Bereich“. Ende Juni, als das Sparpaket geschnürt wurde, verkündeten Blüm und Rexrodt dann die Kürzungen bei Arbeitslosengeld und -hilfe. Wir, das waren in erster Linie arbeitslose Kollegen von Olympia, haben im ehemaligen Kollegenkreise viel über die für uns ja ganz neue Situation gesprochen. Irgendwann kam die Idee, daß wir uns zusammenschließen müssen.
Zum ersten Mal trafen wir uns am 29.6.93 im Seglerheim – und dann ging es los. Wir haben Briefe an die Minister Blüm und Waigel, an den Ministerpräsidenten Schröder, an unsere Bundestagsabgeordneten Maaß und Iwersen und an den SPD-Vorsitzenden Scharping geschrieben. – Das waren sehr persönliche Briefe, in denen wir unsere Situation schilderten. Das soziale Abseits, in dem wir uns plötzlich wiederfanden, die psychischen Auswirkungen, wenn man immer nur hört: „Sie sind ja sehr qualifiziert – aber leider zu alt.“ Das führte bei mir z.B. zu Schlafstörungen, Bluthochdruck, Schweißausbrüchen.

Gegenwind: Wie reagierten die Politiker auf die Briefaktion?
Kiesewetter: Sofortige Unterstützung bekamen wir von Frau Iwersen, die uns unter anderem mit allen benötigten Unterlagen versorgte. Der Herr Maaß schrieb uns, dass wir die „Hoffnung nicht aufgeben“ sollen da war ich denn doch etwas enttäuscht. Die beste Antwort kam von Herrn Scharping. Das war eine konsequente und detaillierte Auflistung dessen, was momentan geschieht, warum es geschieht und wie wir versuchen können, dagegen etwas zu unternehmen.
Als nächstes haben wir durch Artikel in den Tageszeitungen unsere Situation öffentlich gemacht und begannen mit unserer Unterschriftensammlung.

Gegenwind: Bringt solch eine Unterschriftensammlung denn etwas?
Kiesewetter: Wir haben in den wenigen Wochen immerhin 2.600 Unterschriften gesammelt. Wir standen vorm Arbeitsamt, in der Marktstraße, haben die Kollegen bei Kuhlmann besucht. Vielleicht waren die Gespräche, die wir dabei führten das Wichtigste. Diese erschreckende Uninformiertheit der Leute oder auch die Feststellung, dass viele Kollegen die Faust in der Tasche ballen und sagen: „Die werden bei der nächsten Wahl ihre Quittung kriegen.“

Gegenwind: Welche Möglichkeiten hat denn ein Arbeitsloser, sich Gehör zu verschaffen?
Kiesewetter: Im Gegensatz zu den Beschäftigten haben Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger keine Möglichkeit, z.B. durch Streiks, ihre Forderungen durchzusetzen. Wir wollen, zusammen mit den Gewerkschaften und Parteien, versuchen; unsere Probleme öffentlich zu machen. Das muß ein Wahlkampfthema werden! Denn, auch das muß den Politikern klar sein: Wir haben 6 Millionen Arbeitslose in Deutschland – die „verdeckte Arbeitslosigkeit“ mitgezählt. Das ist eine gesellschaftliche Gruppe, mit der die Parteien rechnen müssen! Da steckt sozialer Sprengstoff drin. Man kann uns nicht einfach beiseite schieben.

Gegenwind: Wie organisieren Sie ihre Aktionen? Das ist doch auch nicht so ganz einfach!
Kiesewetter: Wir bekamen und bekommen eine sehr gute Unterstützung vom DGB, der uns Räumlichkeiten zur Verfügung stellte, uns mit Informationen und Materialien versorgte und vieles anderes mehr. Über die Gewerkschaften bekommen wir Verbindungen zu anderen Initiativen in Oldenburg, Hamburg, Osnabrück usw.
Der DGB und die SPD organisierten für uns die Fahrt nach Bonn, zur Übergabe unserer Unterschriftenlisten an den Parlamentarischen Staatssekretär Worms. Wir sind mit 150 Leuten nach Bonn gefahren – das ist auch ein Teil unserer Öffentlichkeitsarbeit. Doch es muß noch viel mehr passieren.

Gegenwind: Wo liegen Ihrer Meinung nach die Ursachen für das, was jetzt in Bonn passiert?Ali
Kiesewetter: Da sind auf der einen Seite die Kosten der Wiedervereinigung und die Mindereinnahmen durch die wirtschaftliche Rezession, auf der anderen Seite meine ich, daß es in erster Linie die FDP ist, die hier alles kippen will. Die Beschäftigten werden gegen die Arbeitslosen ausgespielt, die Armen gegen die Armen. Dann dieses Gerede vom 2. Arbeitsmarkt, wo die Leute vor die Alternative gestellt werden, entweder einen
ganz niedrigen Lohn zu bekommen oder von der Sozialhilfe zu leben. Was uns wirklich fehlt ist das Recht auf Arbeit. Das „Recht auf Arbeit“ gehört als Artikel ins Grundgesetz!

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