Kosovo-Krieg
Nov 212000
 

Die Wahrheit stirbt

Jürgen Elsässer stellte im Gewerkschaftshaus seine Recherchen zum Kosovo-Krieg vor

(iz) In unserer komplizierten Welt geben Menschen sich gern mit einfachen Erklärungen zufrieden. Wenn man die Dinge jedoch in historischen und geografischen Zusammenhängen betrachtet, ergibt sich plötzlich ein ganz anderes Weltbild. Das macht natürlich etwas Mühe, die Lektüre von „Bild“ oder „WZ“ reicht dafür nicht aus. Kritische Journalisten machen sich diese Mühe, wovon politisch aufgeschlossene Zuhörer bzw. Leser profitieren – z. B. als „konkret“-Redakteur Jürgen Elsässer in Wilhelmshaven sein neues Buch vorstellte.

Thema des gerade erschienen Buches „Kriegsverbrechen“ sind die Strategien insbesondere der Bundesregierung, vor allem mit Hilfe der „Medien als vierte Macht im Staate“ den Deutschen den Krieg zu erklären, den sie seit 1999 gegen das serbische Volk führte. Statt einer Autorenlesung im eigentlichen Sinne erwartete die Zuhörer ein freier Vortrag, in dem Elsässer neben ausgewählten Beispielen auch verschiedenste Quellen erläuterte, durch deren ausführliche Lektüre und Gegenüberstellung die Lügen von Scharping, Fischer und Co. entlarvt werden. Besonders erschütternd sind dabei die Bezüge zum Zweiten Weltkrieg, aus dem die Deutschen doch eigentlich für ewig gelernt haben sollten. „Schuld ist immer der Serbe“ war auch schon Hitlers Devise bzw. Vorwand für die grauenvollen Angriffe der Wehrmacht auf das serbische Volk.
Elsässer hat Dossiers von unabhängigen Beobachtern der OSZE ausgewertet, hat sich Berichte des auswärtigen Amtes, des FBI u. a. besorgt, Tausende von Seiten gelesen und analysiert, vor Ort mit Ärzten und Offizieren gesprochen. In täglich wechselnden (und widersprüchlichen) Presseberichten hatte Scharping die Zahl angeblich von Serben ermordeter oder vertriebener Kosovo-Albaner auf über 100.000 inflationiert. Nach oben genannten Berichten „bleiben“ davon bis August dieses Jahres knapp 3000 Tote – insgesamt und auf beiden Seiten, also nicht nur kosovo-albanische Zivilisten, die Scharping als Vorwand für seinen Krieg dienten, sondern auch Kämpfer der terroristischen UCK sowie Serben, die Opfer der UCK als auch des NATO-Bombenhagels wurden. „Als erstes stirbt im Krieg die Wahrheit“ – richtig ist: Sie stirbt schon vor dem Krieg, um diesen erst zu ermöglichen. Das von Scharping erfundene „Racak-Massaker“ war „kriegsent- scheidend“. Ein wehrloses Dorf – in Wahrheit eine UCK-Hochburg – sollte von den Serben hingerichtet worden sein. Pathologen fanden bei 37 von 40 Leichen Schmauchspuren an den Händen, was bedeutet, dass sie selbst auch geschossen haben, aber keine Schmauchspuren am Kopf, was bedeutet, dass es keine „Hinrichtungen“ durch aufgesetzte Kopfschüsse gab (Auswertung der Autopsieberichte). Das wie auch die Schusskanäle weisen deutlich auf eine Gefechts- statt Hinrichtungssituation hin. Vor der Pressekonferenz wurde das finnische Ärzteteam vom deutschen Außenministerium jedoch instruiert, sich hinsichtlich des Autopsieberichtes missverständlich auszudrücken, so dass Scharpings Lügengebäude nicht einstürzen konnte. Alles schon mal dagewesen: Der Überfall auf den Sender Gleiwitz war „Auslöser“ für Hitlers Polenfeldzug und damit den zweiten Weltkrieg. Hitler hatte ein Himmelfahrtskommando mit dem Angriff auf den deutschen Sender beauftragen lassen, der dann den Polen in die Schuhe geschoben wurde. Alle Mitglieder des Kommandos sollten danach getötet werden, damit die Wahrheit nie ans Licht kommen sollte.
Beeindruckend war, dass Elsässer über eine Stunde ohne Manuskript und ohne „ääh..s“ klar und verständlich, teils drastisch, teils mit (real-)satirischen Anklängen referierte. Erst zum Abschluss las er das Vorwort des Buches vor, in dem er auch den Status Quo einer Gesellschaft beleuchtet, die sich ungeachtet aller historischen Erfahrungen immer noch und wieder belügen lässt: „Statt zur Demo geht man zur Love Parade“.
Weiter wollen wir der Lektüre nicht vorgreifen, die wir unseren Leser/innen dringend empfehlen möchten.


18. Oktober 2000 in Wilhelmshaven: Fußball im Fernsehen, Filmfestival-Eröffnung im Pumpwerk, Walter Giller im Stadttheater. Angesichts dieser überwältigenden „Konkurrenz“ fanden nur (oder immerhin?!) 20 Interessierte den Weg ins Gewerkschaftshaus zum Elsässer-Vortrag. Entertainment contra Engagement? Seit Jahren bietet das Antifaschistische Bündnis den WilhelmshavenerInnen „Beiträge zur politischen Bildung“ an, die manchmal nur eine Handvoll, manchmal aber auch über 50 Leute in Anspruch nehmen. Zum Publikum zählen natürlich ohnehin stets engagierte Menschen, aber unter anderem gerade auch ältere MitbürgerInnen, die historische Zusammenhänge von Krieg, Verfolgung, Faschismus aus eigener bitterer Erfahrung kennen und dazu eindrückliche Beiträge in den anschließenden Diskussionen liefern. Unabhängig von der wechselnden Publikumsresonanz wird das Antifaschistische Bündnis dieses – stets qualitativ hochwertig besetzte – Angebot in lockerer Folge fortsetzen.
Spenden zur Unterstützung der Veranstaltungsreihe „Beiträge zur politischen Bildung in Wilhelmshaven“ auf das Konto der BIGAF, Kontonr. 684365 bei der Volksbank Wilhelmshaven, BLZ 282 900 63.

Jürgen Elsässer: Kriegsverbrechen. Die tödlichen Lügen der Bundesregierung und ihre Opfer im Kosovo-Konflikt. konkret texte 27, Hamburg 2000. 190 S. DM 26,80.
Mehr zur Vorgeschichte des Balkan-Konfliktes bzw. der Rolle der Deutschen ist zu lesen in:
Jürgen Elsässer (Hrsg.) Nie wieder Krieg ohne uns. Das Kosovo und die neue deutsche Geopolitik (mit einem unfreiwilligen Vorwort von Joschka Fischer), konkret texte 22, 1999

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