Anti-Terrorpaket
Apr 302002
 

Big Brother Awards für Otto-Katalog

Rolf Gössner referierte über Otto Schilys „Anti-Terrorpakete“

(iz) Mitte April war der wohl bundesweit führende Experte im Bereich „Bürgerrechte und deren Gefährdung“ in Wilhelmshaven zu Gast. Knapp 30 Interessierte waren der Einladung des Antifaschistischen Bündnisses zu der Veranstaltung im Rahmen der Reihe „Beiträge zur politischen Bildung“ ins Gewerkschaftshaus gefolgt. Das zurück-haltende Interesse ist nicht lokaler Natur. Konnte Gössner Anfang des Jahres, als das Gesetzespaket in Kraft trat, an anderen Zielen seiner Vortragsreise noch bis zu 600 Gäste begrüßen, schlagen mittlerweile auch andernorts kollektive Verdrängung und Gewöhnung durch.

 Bei den Beratungen zum ersten „Otto-Katalog“ war Gössner noch als Berater des Bundestags tätig; beim zweiten Paket verzichtete er, um sich nicht nötigen zu lassen, 150 Seiten in wenigen Tagen analysieren und bewerten zu müssen. Das hat er, mit einem größeren Zeitrahmen und anderer Zielsetzung, mittlerweile getan. Mit dem Ergebnis: Für die BürgerInnen ist seit Verabschiedung der Gesetze “nichts mehr wie zuvor“.
Schily, ehemals grüner Politiker und Strafverteidiger von Mitgliedern der Rote Armee Fraktion, hat nach eigenen Worten ein “epochales Gesetzeswerk“ geschaffen. Dieser inhaltlich wertfreien Aussage kann man sich als Kritiker/in durchaus anschließen: Es sind die umfangreichsten Sicherheitsgesetze deutscher Rechtsgeschichte, die von Dekreten der Kaiser, Führer oder den Notstandsgesetzen der 60er nicht zu toppen sind. So wurde die Trennung zwischen Geheimdiensten und Polizei, die nach Erfahrungen der Gestapo-Zeit wohlweislich eingeführt wurde, von Schily aufgehoben. Die grundsätzliche Unschuldsvermutung gegenüber dem Bürger wurde zugunsten einer verdachtsunabhängigen Schleierfahndung aufgehoben (der Bürger muss nachweisen, dass er unschuldig ist) – im Ergebnis, so Gössner, ein “nicht erklärter Ausnahmezustand“.
Gössner umriss die sechs wesentlichsten Folgen der neuen Rechtslage:

1. Stigmatisierung von Migrantinnen

Ausländische Mitbürger/innen stehen unter Generalverdacht und unterliegen einer Sonderbehandlung. Die Weitergabe an Verfolgerstaaten (wo ihnen ggf. Folter oder Hinrichtung droht) ist nicht ausgeschlossen. Das Verbot von ausländischen Vereinen wurde erleichtert.

2. Boom für Geheimdienste und Freibrief für den Verfassungsschutz

Von allen Bürger/innen können ohne richterliche Anordnung Bewegungsprofile erstellt werden. Unternehmen z. B. der Telekommunikation, der Reisebranche und des Bankwesens unterliegen der Mitwirkungspflicht gegenüber der Polizei.

3. „Aus dem Leben eines Taugenichts“

Alle in lebens- oder sicherheitsrelevanten Bereichen tätigen Personen (Energieversorgung, Gesundheitswesen, Rundfunk und Fernsehen) werden routinemäßig überprüft, ggf. auch deren Familien und soziales Umfeld. Gössner zitierte aus Personendossiers des niedersächsischen Verfassungsschutzes, die u. a. Konsum- und Sexualverhalten der betroffenen Personen zum Inhalt haben. Wortwahl und Schlussfolgerungen wären als Satire zum Brüllen komisch: “Person X ist als Taugenichts zu bezeichnen“; „er ist Karl-May-Leser“ (bei Karl Marx wäre das Sicherheitsrisiko für die Herrschenden noch nachvollziehbar – red); “er leidet unter Furunkeln – das liegt wohl an dem dicken Blut“. Doch sie sind Realität und damit alles andere als komisch. Sie können zu Nichteinstellungen, Versetzungen und Kündigungen führen; die Informanten hingegen (“IM West“) bleiben anonym und ungeschoren. In dieser Frage vermisst Gössner den Protest der Gewerkschaften.

4. Grandiose Misstrauenserklärung gegenüber den Bürgern

Neue Personalausweise werden ein so genanntes biometrisches Merkmal enthalten, z. B. Fingerabdruck oder Gesichtsgeometrie. Dazu Ottos Motto: Der Datenschutz sei bislang ohnehin übertrieben worden, und in Spanien sei es seit langem üblich, den Fingerabdruck zu speichern. Dabei erwähnt Schily nicht, seit wann: Der Fingerabdruck ist ein Relikt aus der Zeit des faschistischen Regimes in Spanien.
Eine Gruppe unabhängiger Kritiker hat Schily dafür die “Big Brother Awards“ verliehen. Schily war nicht anwesend – aber Gössner: Er hielt die Laudatio.

5. Weltpolizei Deutschland

1998 verfügte die EU, dass jeder Mitgliedsstaat kriminelle bzw. terroristische Aktivitäten von Bürger/innen eines anderen Mitgliedsstaates auch auf seinem Territorium verfolgen müsse. Deutschland hat nun die Nase vorn mit einem Entwurf für einen Paragrafen 129 b im Strafgesetzbuch. Die weltweite Ausdehnung dieser Rechtssetzung ist nicht auszuschließen. Damit kann ein anderer Staat die Bundesrepublik zwingen, eine aus deutscher Sicht legitime Widerstandbewegung zu verfolgen. Ein Beispiel: Wäre Nelson Mandela, ehe er im südafrikanischen Knast landete, nach Deutschland geflüchtet, hätte er auch hier im Gefängnis landen können.

6. Ende der Versammlungsfreiheit?

Nach der EU-Terrorismusdefinition sind zukünftig auch Protestveranstaltungen wie z. B. in Genua (“urban violence“) zu verfolgen. Auch Greenpeace-Aktionen oder Castor-Blockaden stehen mehr denn je auf dem Prüfstand. Nach Protesten von Bürgerbewegungen enthält die Präambel jetzt den Passus, die Versammlungsfreiheit dürfe nicht geschmälert werden. Papier ist geduldig.

Kommentar:

Schilys Gesetze bekräftigen die Erfahrung, dass Terror den Staat stärkt. Sie sind kein neues Kapitel deutscher Geschichte, sondern die Fortsetzung einer langen Entwicklung. Die Anhäufung von Regelungen, die die Rechte der Bürger/innen bis hin zu grundgesetzlich verankerten Freiheiten beschränken, verleihen dem „Otto-Katalog“ allerdings eine neue Qualität. Derweil werden die Betroffenen immer stummer. Noch Anfang der achtziger Jahre konnte die Welle von Protesten und Boykotts die Volkszählung kippen. Noch frischer ist die Erinnerung an die Zeit, als das ganze Volk eines deutschen Staates diesen zum Einsturz brachte. Ehemalige DDR-Bürgerrechtler/innen sind bestürzt: „Wir haben damals Kopf und Kragen riskiert, um ein totalitäres Regime zu stürzen. War denn alles umsonst?“

Imke Zwoch

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