Gesundheitsreform 2003
Okt 082003
 

Klassenmedizin

Krank sein wird teuer

(ub) Auf Einladung der Arbeitsloseninitiative referierte der Leiter der AOK Regionaldirektion Wilhelmshaven Jürgen Tiedemann über das Thema Gesundheitsreform 2003. Einschnitte in das Sozialleistungssystem trugen, so Tiedemann, noch vor kurzen den Titel „Kostendämpfungsgesetze“. Jetzt heißt das Reform. Das klingt besser, meint aber in diesem Fall den „größten Abbau von Sozialleistungen in der Nachkriegsgeschichte“ (Ali).

Aus aktuellem Anlass, „weil die politische Diskussion um die Gesundheitsreform in vollem Gange“ sei, so Günther Kraemmer, Vorsitzender der Arbeitsloseninitiative Wilhelmshaven/Friesland, und weil Arbeitnehmer, Arbeitslose, Rentner und insbesondere kranke Menschen Verlierer der geplanten Veränderungen im Gesundheitswesen sind“, war die so genannte Gesundheitsreform 2003 Thema in der Reihe der politischen Veranstaltungen der Arbeitsloseninitiative im Gewerkschaftshaus.
„Unser Interesse besteht an einem leistungsfähigen Gesundheitssystem, das offen ist für alle Menschen und nicht diejenigen ausgrenzt, die finanziell nicht zu den Reichen zählen. Wir brauchen keine Klassenmedizin, wir brauchen eine klasse Medizin für alle“, so hatte es Ernst Taux von der Arbeitsloseninitiative in der Einladung zur Veranstaltung formuliert.
Nach dem knapp zweistündigen Referat von Jürgen Tiedemann waren die Versammelten sich einig: Den oft zitierten „kleinen Mann“ trifft es am schlimmsten. Den Besserverdienenden stören die Einschränkungen im Gesundheitswesen kaum. Wer, wie beispielweise die Pharmaindustrie, bisher am Gesundheitswesen kräftig verdiente, wird auch weiterhin ein sorgenfreies Auskommen genießen.
„Oberstes Ziel der Gesundheitsreform“ ist, so Tiedemann, die Senkung der durchschnittlichen Beitragssätze von derzeit 14,4 % auf unter 13 %. Wenn das Gesamtpaket der gesetzlichen Veränderungen greift, will man viele Milliarden Euro einsparen. 435 Seiten stark ist der entsprechende Gesetzesentwurf – 250 Gesetze müssen geändert werden. Und das soll jetzt alles ganz schnell in trockene Tücher gepackt werden. Tiedemann: „Die Verabschiedungsorgie läuft – es geht ruckzuck“.

Belastungen in Milliardenhöhe

Es geht bei der Gesundheitsreform um die Senkung der Lohnnebenkosten. In der politischen Diskussion macht die Forderung von der „Verlagerung in die Eigenverantwortung“ die Runde. Wer krank wird, soll selbst die Kosten der Behandlung tragen. Arbeitnehmer, Arbeitslose und Rentner müssen mit erheblichen finanziellen Belastungen rechnen. Die Zeitschrift „Gesundheit und Gesellschaft – das AOK-Forum für Politik, Praxis und Wissenschaft“ hat in seiner Augustausgabe die zahlenmäßige Auswirkung der Gesundheitsreform eingeschätzt: „…in der Gesamtbetrachtung muss konstatiert werden, dass die finanziellen Belastungen für die Kranken beträchtlich sind: Sie sollen insgesamt 3,3 Milliarden Euro mehr an Zuzahlungen beim Arzt, für Medikamente oder im Krankenhaus leisten. Zugleich werden Leistungen in Höhe von 2,5 Milliarden Euro ganz ausgegrenzt. Hinzu kommt, dass in zwei Stufen alle Versicherten höher belastet werden: Ab 2005 wird der Zahnersatz aus dem GKV-Leistungskatalog ausgegliedert; ab 2007 soll das Krankengeld nicht mehr paritätisch von Versicherten und Arbeitgebern finanziert werden, sondern allein durch die Versicherten. Bereits ab dem Jahr 2004 müssen Rentner auf Versorgungsbezüge wie zum Beispiel Betriebsrenten höhere Beiträge mit einem Gesamtvolumen 1,6 Milliarden Euro zahlen.

 

Die Änderungen
Medikamente werden gehortet, der Auslandsurlaub wird an Hand von Pharmakapreislisten geplant, die Zahnärzte müssen zusätzliche Stühle ins Wartezimmer stellen, Sehhilfen zahlt zukünftig der Leistungsberechtigte selber, ergo fällt schon jetzt die Fielmannaktie. Noch hat zwar keine Gesetzesänderung im Gesundheitswesen Gültigkeit. Gleichwohl wird überall hektisch reagiert. Die wesentlichen Eckpunkte der geplanten Veränderung dokumentieren wir im Folgenden.

Zahnersatz
Ab 2005 ist der Zahnersatz keine Kassenleistung mehr. Patienten werden sich künftig zusätzlich privat versichern oder einen Extrabeitrag an ihre gesetzliche Krankenkasse bezahlen. Die AOK Wilhelmshaven geht davon aus, dass der monatliche Beitrag bei der gesetzlichen Kasse für jeden Versicherten bei ca. 9 Euro pro Monat liegen wird. Unklar ist, was diese zusätzliche Versicherung abdeckt. Prozentual beregelte Zuschüsse wie bisher wird es nicht mehr geben. Statt dessen sollen „befundbezogene Festzuschüsse“ zur notwendigen Versorgung gewährt werden. Unklar ist unter anderem noch, was als „notwendig“ angesehen wird.

Allgemeine Leistungskürzungen
Taxifahrten zum Arzt werden nicht mehr von der Krankenkasse übernommen. Brillen muss jeder selbst bezahlen. Das Sterbegeld fällt weg. Nicht verschreibungspflichtige Medikamente muss der Kranke grundsätzlich selbst bezahlen. Arzneimittel, die nach Ansicht der Krankenkassen überwiegend der Verbesserung der privaten Lebensführung dienen, werden von der Erstattungspflicht der Krankenkassen ausgenommen. Z. B. wenn „er“ nicht mehr so will, muss der Patient das Mittel gegen erektile Dysfunktion selbst berappen.

Zuzahlungen
Hier wird kräftig zugelangt. Für Arzneimittel müssen Patienten künftig zehn Prozent aus eigenem Budget dazubezahlen. Mindestens sind pro Medikament 5 Euro fällig. Die Höchstgrenze liegt bei 10 Euro. Teurer wird auch der Krankenhausaufenthalt. 10 Euro pro Tag müssen für max. 28 Tage im Jahr gezahlt werden. Eine Steigerung der Kosten um über 100 Prozent, denn derzeit sind bei längerem oder mehrmaligen Krankenhausaufenthalt 9 Euro für maximal 14 Tage zu bezahlen. Wer einen Facharzt aufsucht, ohne dass vorher von seinem Hausarzt hierfür ein Überweisungsschein ausgestellt wurde, zahlt 10 Euro im Quartal zusätzlich.

Krankengeld
Ab 2007 zahlen Arbeitnehmer für den Lohnersatz bei langer Krankheit zusätzlich 0,25 Prozent ihres Bruttoeinkommens. Arbeitgeber zahlen nichts!

Positivliste
Hier bleibt alles beim Alten, und gerade das ist erwähnenswert! Ein gravierender Kostenfaktor in der Gesundheitsversorgung sind die Aufwendungen für Arzneimittel. Medikamente sind zudem bekanntlich in Deutschland am teuersten. Es kann jeder Haus- und Facharzt aus einer Palette von 46 000(!) Medikamenten wählen. Fast jeder Schmerzmittelnutzer weiß, dass das Medikament „Aspirin“ in der Wirkstoffzusammensetzung deckungsgleich mit den „ASS“ –Produkten ist. Trotzdem ist „Aspirin“ um ein Vielfaches teurer. Die Positivliste sollte die Ärzte zwingen, bei zusammensetzungsgleichen bzw. sehr ähnlichen Medikamenten die jeweils kostengünstigsten zu verschreiben. Die Pharmaindustrie hat mit Hilfe der deutschen Rechtsprechung eine entsprechende Einschränkung verhindert.

Gesundheitskarte oder „gläserner Patient“
Ab 2006 wird eine neue Gesundheitskarte eingeführt. Diese „intelligente“ Gesundheitskarte wird fälschungssicher, und auf ihr können zusätzlich zu den bisher gespeicherten Daten der Krankenversicherungskarte freiwillig Angaben zu beispielsweise chronischen Erkrankungen, Allergien, Verläufen von Vorerkrankungen, Angaben zu bisher erfolgten Therapien etc. gespeichert werden. Hier wird, so der Leiter der AOK-Regionaldirektion Wilhelmshaven, „ein erster Schritt“ bei der Datenerfassung gegangen.

Prävention
Die Stärkung der Prävention wird als wichtiges Ziel der Gesundheitsreform angesehen. Am kostengünstigsten ist es natürlich, wenn möglichst wenige überhaupt krank werden. Man sieht durchaus, dass es schon Ansätze gibt, Krankheit zu verhindern und Gesundheit zu fördern. Die Verantwortlichen in Kommission und Regierung meinen aber, dass noch ein abgestimmtes Konzept zum Thema Prävention notwendig ist. Demnächst erwartet uns deshalb ein Präventionsgesetz. Ein Teilnehmer der Arbeitslosenveranstaltung fühlte sich an alte DDR-Zeiten erinnert und zitierte den Wahlspruch „Jeder Mann an jedem Ort, einmal in der Woche Sport“.

Und außerdem:

♦ sollen Ärzte zur regelmäßigen Qualifikation verpflichtet werden
♦ hat der Patient zukünftig Anspruch auf eine Quittung über Leistung und Kosten des Arztbesuches
♦ kann man Medikamente künftig bei so genannten Internetapotheken bestellen
♦ dürfen Apotheker künftig insgesamt 4 Filialen eröffnen
♦ sollen sich Krankenhäuser für ambulante Maßnahmen öffnen
♦ zahlen Beamte, Minister und Abgeordnete Zahnersatzkosten künftig auch selbst
♦ werden Rentner künftig stärker zur Kasse gebeten
♦ sollen so genannte versicherungsfremde Leistungen (vor allem Leistungen rund um die Schwangerschaft) aus Steuermitteln finanziert werden. Das zahlen zukünftig die Raucher durch Preiserhöhung von einem Euro pro Schachtel.

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