Vergewaltigung der sozial Schwächsten
Infoveranstaltung der AOK zur Gesundheitsreform
(ub) Bei der Arbeitsloseninitiative (Ali) referierte Klaus Wilbers von der AOK zum Thema „Gesundheitsmodernisierungsgesetz“. Wenn in Zusammenhang mit der Sozialgesetzgebung die Begriffe „modern“ und „Reform“ zur Sprache kommen, zuckt mittlerweile jeder Arbeitnehmer und Rentner verängstigt zusammen. Denn dann ist die Rede von Zuzahlung, Leistungseinschränkung und Anspruchsreduzierung. Dem mochte auch der AOK-Vertreter nicht wiedersprechen und sprach im Fall der jüngsten Gesetzesänderung gar von einer „Vergewaltigung der Schwächsten“.
Von „A“ wie Antibaby-Pille bis „Z“ wie Zuzahlungen – die neue Gesundheitsreform bringt eine Flut von Änderungen mit sich. Weil keiner mehr durchblickt, haben Infoveranstaltungen zum Thema Gesundheitsreform Hochkonjunktur. Die Ali hatte auf ihrer Februarveranstaltung einen Vertreter der gesetzlichen Krankenkassen – Klaus Wilbers von der AOK Regionaldirektion – eingeladen, um mit Focus auf Änderungen für Arbeitslosengeld- und -hilfebezieher über das neue Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenkassen zu informieren und zu diskutieren.
Der Veranstaltungssaal im neuen Gewerkschaftshaus in der Weserstr. 51 war prall gefüllt, und förmlich spürbar schon vor Veranstaltungsbeginn herrschte eine „Wir haben die Schnauze voll“-Stimmung unter den fast ausschließlich beschäftigungslosen Veranstaltungsteilnehmern. Die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe, die Abschaffung von Zumutbarkeitsklauseln bei der Arbeitsvermittlung, die Heranziehung der Betriebsrenten bei der Berechnung der Sozialabgaben – Hartz IV und andere Kommissionen haben eines gemeinsam: Alle „Reformen“ und „Modernisierungen“ ermöglichen auch und vor allem einen kräftigen Griff in die Tasche derjenigen, die in dieser Gesellschaft zu den Einkommensschwächeren zu zählen sind.
Klaus Wilbers hatte alles Wesentliche bezüglich der Neuerungen in der Gesundheitsreform fein säuberlich auf Klarsichtfolien parat, bereit, Schritt für Schritt das neue Regelwerk zu erläutern. Doch um sich überhaupt Gehör verschaffen zu können, musste Wilbers vorab eines klarstellen: „Ich bin auf Ihrer Seite. Wir (die Krankenkassen) haben diese Änderungen nicht gemacht. Die Verantwortung liegt bei den Politikern.“ Die gesetzlichen Krankenkassen sind nicht glücklich mit den Änderungen und gehen auf Distanz zur Reform.
Und dann, als doch einigermaßen chronologisch über die vielen geplanten Neuerungen im Gesundheitswesen informiert wird, wird immer wieder deutlich, wie groß die allgemeine Verunsicherung auf allen Seiten ist. Was auf dem Papier zwar kompliziert und facettenreich, aber irgendwie auch logisch erscheint, gestaltet sich oft völlig chaotisch in der Praxis. Aus eben der berichten aufgebrachte Veranstaltungsteilnehmer. Beispiel Praxisgebühr: Jeder Arztbesuch kostet pro Quartal 10 Euro. Es sei denn, es gilt eine Ausnahmeregelung. Weil diese auch den Ärzten nicht immer bekannt sind, wird im Zweifelsfall erst mal kassiert. So sind zwar Vorsorgetermine beim Zahnarzt gebührenfrei. Aber wenn doch gebohrt werden muss, sind 10 Euro fällig. Von den Veranstaltungsteilnehmern wurde berichtet, dass einige Zahnärzte grundsätzlich erst mal kassieren. Nach der „bei Ihnen ist alles in Ordnung“-Diagnose des Zahnarztes beginnt dann die Feilscherei mit der Sprechstundenhilfe um die unberechtigt eingezogenen 10 Euro Praxisgebühr. Der Patient mutiert zum Gesundheitsexperten und erklärt der Zahnarzthelferin, dass das nervige Geräusch aus dem Behandlungszimmer zwar zweifelsfrei ein Bohrergeräusch war, das allseits gefürchtete Instrument aber zum Entfernen von Zahnstein eingesetzt wurde und deshalb keinesfalls eine Behandlung im kostenpflichtigen Sinne, sondern noch eine Vorsorgemaßnahme darstellte.
Nächstes Beispiel: Quartalsüberschreitende Behandlung. Die Praxisgebühr von 10 Euro ist pro Quartal fällig. Wenn aber der Patient wegen ein und der selben Erkrankung über das Quartal hinaus die Behandlung fortsetzt, ist eine Praxisgebührzahlung nicht erneut erforderlich. Allein schon dieser Umstand ist in vielen Praxen derzeit nicht bekannt. Selbst wenn, woher soll die Praxishelferin an der Anmeldung wissen, wie der Krankheitsverlauf des Patienten ist? Vorbei die Zeit, wo man dank langer Wartezeit sich ausführlich dem Studium der „Praline“ und des „Spiegel“ widmen konnte. Auf die vielen interessanten Fachgespräche im Arztvorzimmer kann man sich freuen.
Ursprüngliches Ziel der Reform sollte sein, die Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitssystem zu verbessern. Die Beitragssätze sollten gesenkt und damit die Lohnnebenkosten verringert werden. Ziel war es auch, so Wilbers „die Effizienz und Transparenz zu erhöhen.“ Beispiel Transparenz: Auch Pflichtversicherte in den gesetzlichen Krankenkassen haben künftig Anspruch auf eine Quittung über die erbrachten ärztlichen Leistungen. In der so genannten Patientenquittung sollen Art der Leistungen und die erhobenen Behandlungskosten aufgeführt werden. Weil es, so Wilbers, in der Vergangenheit „schwarze Schafe“ unter den Ärzten gab (gemeint sind jene, die gar nicht erbrachte Behandlungen bei der Krankenkasse abgerechnet haben), sollen jetzt die Patienten die Kontrolle übernehmen. Herbe Kritik auch hier von den Veranstaltungsteilnehmern. “Hier wird am Vertrauensverhältnis Arzt/Patient gerüttelt. Hier wären vielmehr die Kassenärztliche Vereinigung und die Krankenkassen gefordert“, so ein Veranstaltungsteilnehmer.
Günter Kraemmer, Vorsitzender der Ali: „Es ist absurd was kranken Menschen in ihrer speziellen Situation zugemutet wird.“
Das „mit heißer Nadel gestrickte“ Reformpaket stößt auf Kritik auch bei den Vertretern der gesetzlichen Krankenkassen. Schon jetzt hagelt es dort Proteste von wütenden Patienten, die vermeintlich oder tatsächlich ungerechtfertigt zur Kasse gebeten wurden. „Das System ist chaotisch“ (Wilbers). Fest steht, dass bei der Ausgestaltung der „Reform“pläne die Krankenkassen die Interessen ihres Klientels, der Versicherten, nicht bzw. nur sehr ungenügend vertreten konnten. Massiv deshalb die Kritik einiger Veranstaltungsteilnehmer. Es muss wie Hohn klingen, wenn jetzt die Krankenkassen empfehlen, nicht jede Zahlung klaglos hinzunehmen, gegebenenfalls mit Ärzten und Apotheken zu verhandeln, Kassenärztliche Vereinigung und Krankenkassen zur Schlichtung einzuschalten und die Medikamente am besten gleich in einer Internetapotheke zu bestellen („Da kann man ´ne Menge Geld sparen“, Wilbers). Der Vertreter der AOK plädiert für den freien Wettbewerb. Die Kassen sollten besser die Möglichkeit bekommen, mit den Ärzten Einzelverträge auszuhandeln. Der Patient soll mit dem Arzt um Gebühren chinchen. Durch geschicktes Austarieren der Überweisungen von Arzt zu Arzt, quartalsübergreifend jedoch darauf achtend, dass eine Folgebehandlung vorliegt, lässt sich so mancher Euro sparen. Beim Apotheker sollten Rabatte ausgehandelt werden. Wer dann noch mit den inzwischen erworbenen medizinischen Fachkenntnissen via Attest seine Erkrankung für chronisch erklärt, senkt seine persönliche Belastungsgrenze von 2 auf 1% des Bruttojahreseinkommens (hiermit ist auch das Arbeitslosengeld gemeint!) und spart ein kleines Vermögen.
Dieses System der Entsolidarisierung, der Auflösung von allgemeinen Regelungen, in denen insbesondere Schwächere Schutz finden, kommt dem gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer und Arbeitssuchenden so fremd nicht vor. Ein Vertreter der Ali sieht Parallelen zum Arbeitskampf und warnt: „Einzelverträge und individuelle Regelungen statt Flächentarife, das hätten die Arbeitgebervertreter auch gerne“.
Über 20 Milliarden Euro sollen mit den Änderungen der Gesundheitsreform eingespart werden (siehe Kasten). Das Sparpaket besteht aus einer Vielzahl von Einzelmaßnahmen, die ganz überwiegend auf den Geldbeutel von Arbeitnehmern, Rentnern und Arbeitslosen zielen. Unangetastet bleibt die Pharmaindustrie.
Die Veranstaltung der Ali machte deutlich, „dass sich im Bundesausschuss für die Gesetzesänderung die Vertreter der Pharmaindustrie durchgesetzt haben“ (G. Kraemer).
Die so genannte Gesundheitsreform soll insgesamt zur Einsparung von rund 20 Milliarden Euro führen. Auf einem auf der Ali-Veranstaltung verteilten Flugblatt ist aufgelistet, welche Maßnahmen zu diesem Einsparergebnis führen sollen:
- Private Absicherung der Zahnbehandlung – ca. 3,5 Mrd. €
- Finanzierung des Krankengeldes ausschl. durch Arbeitnehmer – ca. 5,0 Mrd. €
- Steuerfinanzierung so gen. „versicherungsfremder“ Leistungen (gemeint sind: Mutterschutz- und Entbindungsgeld, Empfängnisverhütung und Schwangerschaftsabbruch, Haushaltshilfe, Krankengeld bei Betreuung der Kinder, Beitragspflicht auch für Erziehung-/Mutterschaftsgeld und Elternzeit) – ca. 4,2 Mrd. €
- Erhöhung der Zuzahlungen Praxisgebühr, Krankenhausaufenthalt, Zuzahlungen auf Arzneimittel – ca. 3,3 Mrd. €
- Leistungsausgrenzung bei nicht verschreibungspflichtigen Arzneimitteln, Sehhilfen, Sterilisation und künstlicher Befruchtung, Fahrtkosten bei ambulanter Behandlung, Sterbegeld – ca. 2,5 Mrd. €
- Höhere Beiträge von Rentnern – ca. 1,6 Mrd. €
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